Mein Leben nach der Todeszelle (German Edition)
annähernd so heruntergekommen wie in späteren Jahren. Wir wohnten im schlechtesten Schulbezirk der Stadt, und gleich am ersten Tag stellte ich fest, dass ich eins von nur zwei weißen Kindern in der Klasse war. Das andere war mein bester Freund Tommy, der auch in Mayfair wohnte. Unsere Lehrerin war eine dürre Schwarze namens Donaldson, und ich hätte große Mühe, noch eine Erwachsene zu finden, die so voller Hass war wie sie. Zu den Mädchen war sie nicht so schlimm, aber anscheinend hegte sie eine glühende Abneigung gegen alle männlichen Kinder. Ich weiß nicht, wieso sie Lehrerin geworden war; anscheinend zermarterte sie sich ständig das Hirn auf der Suche nach neuen und innovativen Formen der Bestrafung.
Ich war in diesem Alter sehr still, beinahe unsichtbar, und so gelang es mir, ihrem Zorn die meiste Zeit aus dem Weg zu gehen, aber zweimal bemerkte sie mich. Einmal erzählte ihr ein Mädchen – warum, habe ich nie verstanden –, ich hätte während des Mittagsschlafs die Augen offen gehabt. Jeden Mittag nach dem Lunch mussten wir unsere Matten herausholen, uns damit auf den Boden legen und eine halbe Stunde schlafen, während die Lehrerin uns allein ließ. Niemand wusste, wohin sie ging oder warum sie überhaupt wegging. Ihr genügte es nicht, dass wir still waren; sie wollte, dass wir schliefen, und sie erwartete, dass wir es auf Kommando taten. Eine von uns ernannte sie zur Klassenpetze, solange sie weg war, und diejenige durfte dann wie ein Gott am Lehrerpult sitzen und über alle anderen, die auf dem Boden ausgestreckt lagen, hinwegschauen. Auserwählt war immer ein Mädchen, niemals ein Junge.
Eines Tages also lag ich auf dem Boden, atmete Staub ein und hoffte, dass keine Spinne kommen würde. Nach einer halben Stunde kam die Lehrerin zurück und forderte das Mädchen am Pult auf, Bericht zu erstatten – wer geschlafen habe und wer nicht. Das Mädchen zeigte auf mich und sagte: » Er hatte die Augen offen. «
Ich hatte mich nicht von der Matte gerührt und keinen Mucks von mir gegeben, aber diese Lehrerin zitierte mich vor die Klasse und schlug mir mit einem Lineal auf die Hände. Es tat richtig weh, und dazu kam, dass ich diese Schmach vor allen Kindern über mich ergehen lassen musste, aber noch beängstigender und traumatisierender war der wütende Hass, mit dem sie die Strafe ausführte. Wild und erbost knirschte sie mit den Zähnen und grunzte jedes Mal, wenn das verfluchte Lineal auf meine Finger klatschte. Ich weiß nicht mehr, was ich falsch gemacht hatte – falls es überhaupt einen Grund gab –, als sie das zweite Mal Notiz von mir nahm. Aber an die Bestrafung erinnere ich mich, und diesmal traf es mich nicht als Einzigen. Wieder musste ich, diesmal zusammen mit zwei anderen Jungen, eine halbe Stunde lang vor der ganzen Klasse stehen und einen Stapel Bücher über dem Kopf halten. Alle drei standen wir mit hochgestreckten Armen da und hielten zitternd vor Anstrengung den Bücherstapel fest. Die ganze Zeit heulte sie uns wütend an und schrie: » Ihr werdet schon lernen, dass ich nicht mit euch spiele! «
So viel zum Kindergarten.
Zwei seltsame Ereignisse habe ich aus dieser Zeit meines Lebens in Erinnerung, aber beide kann ich nicht erklären. Die erste Sache passierte, als wir noch in Mayfair wohnten.
Eines Abends, als es dämmerte, hatte meine Mutter mir verboten, den Gehweg unmittelbar vor unserem Apartmenthaus zu verlassen. Als disziplinloser Heide, der ich war, machte ich mich eilig aus dem Staub, kaum dass sie außer Sicht war. Ich lief hinter die Häuser, wo ein riesiger Sandhaufen lag, und fing an, mit bloßen Händen ein Loch zu graben. Das war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen in meiner Kindheit, und ich verbrachte viel Zeit damit. Wenn ich morgens aufgestanden war, aß ich eine Schale Frühstücksflocken, und dann leckte ich den Löffel sauber und nahm ihn mit. Ich buddelte nonstop den ganzen Tag. Unser Vorgarten sah aus wie ein Alptraum, und meine Mutter kam aus der Tür und rief: » Junge, mach diese Löcher wieder zu, bevor sich jemand den Knöchel bricht. «
An diesem Abend blickte ich von meiner Arbeit auf und merkte, dass es stockdunkel geworden war. Ich sah die Straßenlaternen in der Ferne, und die Nacht war totenstill. Keine Grillen, keine Stimmen, keine Autos. Nichts als die Stille, die eintritt, wenn der Film aus ist und die Leinwand schwarz wird. Mir war klar, dass ich jetzt offiziell in Schwierigkeiten war. Ich klopfte mir den Sand von den Sachen und
Weitere Kostenlose Bücher