Mein Leben Ohne Gestern
Zeitpunkt.
Alice war besorgt, auf welche Weise sich ein Familienleben auf Annas Karriere auswirken würde. Alice’ Weg zu einer Professur mit Festanstellung war steinig gewesen, und zwar nicht, weil die Verantwortung allzu beängstigend wurde oder sie keine überragenden linguistischen Arbeiten veröffentlichte, sondern im Grunde nur deswegen, weil sie eine Frau war, die Kinder hatte. Die Übelkeit, die Anämie und die Präeklampsie, die sie in den insgesamt rund zweieinhalb Jahren Schwangerschaft durchmachte hatte, hatten sie auf jeden Fall abgelenkt und ausgebremst. Und die Bedürfnisse der drei kleinen Menschen, die aus diesen Schwangerschaften entstanden waren, verlangten ihr mehr Zeit und Ausdauer ab als jeder tyrannische Institutsleiter oder karrierebesessene Student, der ihr je begegnet war.
Immer wieder hatte sie ängstlich mit angesehen, wie die aussichtsreichsten Karrieren ihrer reproduktiv aktiven Kolleginnen nur noch im Schneckentempo weiterkrochen oder gleich ganz aus dem Gleis sprangen. Zuzusehen, wie John, ihr männlicher Gegenpart und ihr intellektuell ebenbürtig, auf der Überholspur an ihr vorbeischoss, war schwer zu ertragen gewesen. Sie fragte sich oft, ob seine Karriere das alles überstanden hätte – drei Episiotomien, Stillen, Töpfchentraining, endlose, nervtötende Tage, an denen »Ringel Ringel Reihe, es sind der Kinder dreie« gesungen wurde, und noch mehr Nächte mit nicht mehr als zwei oder drei Stunden ununterbrochenem Schlaf. Sie bezweifelte es ernsthaft.
Während sie alle Küsse, Umarmungen, höfliche Floskeln und Geburtstagsglückwünsche austauschten, trat eine ganz in Schwarz gekleidete Frau mit stark blondiertem Haar zu ihnen an die Bar.
»Sind Sie jetzt vollzählig?«, fragte sie mit einem freundlichen Lächeln, das ein bisschen zu lang war, um aufrichtig zu sein.
»Nein. Auf einen warten wir noch«, sagte Anna.
»Hier bin ich!«, sagte Tom in diesem Augenblick und trat von hinten an sie heran. »Alles Gute zum Geburtstag, Mom.«
Alice umarmte und küsste ihn, und dann bemerkte sie, dass er allein gekommen war.
»Warten wir noch auf …?«
»Jill? Nein, Mom, wir haben uns letzten Monat getrennt.«
»Du wechselst deine Freundinnen so oft, dass wir uns ihre Namen unmöglich merken können«, sagte Anna. »Gibt es eine neue, für die wir einen Platz frei halten sollen?«
»Noch nicht«, sagte Tom zu Anna und zu der Frau in Schwarz: »Jetzt sind wir komplett.«
Toms Phasen, in denen er zwischen zwei Freundinnen war, traten regelmäßig alle sechs bis neun Monate auf, aber sie dauerten nie lange an. Er war leidenschaftlich und klug, das Ebenbild seines Vaters, im dritten Jahr seinesMedizinstudiums in Harvard, mit einer Karriere in der kardiothorakalen Chirurgie vor Augen, und er sah aus, als könnte er eine anständige Mahlzeit brauchen. Er gab, nicht ohne Ironie, zu, dass jeder Medizinstudent und Chirurg, den er kannte, erbärmlich schlecht und nur auf die Schnelle und auf die Hand etwas aß – Doughnuts, Tüten mit Chips, Essen aus Automaten und der Krankenhaus-Cafeteria. Keiner von ihnen hatte Zeit, Sport zu treiben, es sei denn, sie nahmen die Treppe statt den Aufzug. Er witzelte, zumindest würden sie in ein paar Jahren alle dafür qualifiziert sein, sich gegenseitig ihre Herzkrankheiten zu behandeln.
Als sie in einer halbkreisförmigen Nische bei Drinks und Appetithappen saßen, kam das Gesprächsthema auf das fehlende Familienmitglied.
»Wann ist Lydia eigentlich das letzte Mal zu einem der Geburtstagsessen gekommen?«, fragte Anna.
»Zu meinem Einundzwanzigsten war sie hier«, sagte Tom.
»Das ist fast fünf Jahre her! War das das letzte Mal?«, wunderte sich Anna.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte John, ohne weiter ins Detail zu gehen.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das das letzte Mal war«, beharrte Tom.
»Das war es nicht. Zum Fünfzigsten deines Vaters am Cape war sie da, vor drei Jahren«, sagte Alice.
»Wie geht es ihr denn, Mom?«, fragte Anna.
Anna war sichtlich froh über die Tatsache, dass Lydia nicht aufs College ging; irgendwie sicherte es schließlich ihre Position als die klügste, erfolgreichste Howland-Tochter. Als Älteste war Anna die Erste gewesen, die ihren entzückten Eltern ihre Intelligenz beweisen konnte, die Erste, die den Status als ihre brillante Tochter einnahm. Obwohl Tom ebenfalls hochintelligent war, schenkte Anna ihm nie viel Beachtung, vielleicht weil er ein Junge war. Dann war Lydia gekommen. BeideMädchen
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