Mein Leben Ohne Gestern
konnte sich kein Bild von ihr machen.
Als sie sich zum Pinkeln setzte, sah sie das Blut. Ihre Periode. Sie wusste natürlich, dass die Menstruation zu Beginn der Wechseljahre oft unregelmäßig war, dass sie nicht unbedingt schlagartig für immer aufhörte. Aber die Möglichkeit, dass sie vielleicht doch noch nicht in den Wechseljahren war, schlich sich an, krallte sich fest und ließ sie nicht mehr los.
Ihre Entschlossenheit, gedämpft durch den Champagner und das Blut, brach völlig über ihr zusammen. Sie brach in Tränen aus. Sie schnappte nach Luft. Sie war fünfzig Jahre alt, und sie hatte das Gefühl, vielleicht den Verstand zu verlieren.
Jemand klopfte an die Tür.
»Mom?«, fragte Anna. »Alles okay mit dir?«
NOVEMBER 2003
Dr. Tamara Moyers Praxis befand sich im dritten Stock eines fünfstöckigen Bürogebäudes, ein paar Blocks westlich vom Harvard Square, nicht weit von der Stelle, wo Alice für einen Moment die Orientierung verloren hatte. Die Warte- und Sprechzimmer, noch immer mit gerahmten Ansel-Adams-Drucken und pharmazeutischen Werbeplakaten an den stahlgrauen Wänden, weckten keine negativen Assoziationen in ihr. In den zweiundzwanzig Jahren, die Dr. Moyer nun schon Alice’ Ärztin war, war sie ausschließlich zu Vorsorge-Check-ups – Untersuchungen, Booster-Immunisierungen und, in letzter Zeit, Mammogrammen – gekommen.
»Was führt Sie heute zu mir, Alice?«, fragte Dr. Moyer.
»Ich habe in letzter Zeit Gedächtnisprobleme, die ich zunächst für menopausale Symptome gehalten habe. Vor etwa sechs Monaten hat meine Periode aufgehört, aber letzten Monat kam sie wieder, das heißt, vielleicht bin ich doch noch nicht in den Wechseljahren, und deswegen dachte ich, ich sollte damit vielleicht mal zu Ihnen kommen.«
»Was genau sind das für Dinge, die Sie vergessen?«, fragte Dr. Moyer, während sie sich Notizen machte, ohne aufzusehen.
»Namen, Wörter in Gesprächen, wo ich meinen Blackberry hingelegt habe, warum etwas auf meiner Erledigungsliste steht.«
»Okay.«
Alice beobachtete ihre Ärztin genau. Ihr Geständnis schien sie in keinster Weise aufhorchen zu lassen. Dr. Moyer nahm die Information auf wie ein Priester, dem ein Junge beichtet, er habe unreine Gedanken an ein Mädchen gehabt. Vermutlich hörte sie jeden Tag unzählige Male Beschwerden dieser Art von völlig gesunden Menschen. Alice wollte sich fast dafür entschuldigen, dass sie so panisch war, albern sogar, und die Zeit ihrer Ärztin vergeudete. Jeder vergisst solche Dinge, vor allem mit zunehmendem Alter. Dazu noch die Wechseljahre und die Tatsache, dass sie immer drei Dinge gleichzeitig erledigte und an zwölf weitere dachte – schon erschienen diese Gedächtnisausfälle auf einmal klein, gewöhnlich, harmlos und sogar erwartbar. Jeder steht unter Stress. Jeder ist erschöpft. Jeder vergisst Dinge .
»Außerdem habe ich neulich auf dem Harvard Square für einen Moment die Orientierung verloren. Mindestens ein paar Minuten lang wusste ich nicht, wo ich war, bevor alles wiederkam.«
Dr. Moyer hörte auf, Symptome auf ihrem Bewertungsbogen festzuhalten, und sah Alice genau an. Das wiederum ließ sie aufhorchen.
»Hatten Sie ein Engegefühl in der Brust?«
»Nein.«
»Hatten Sie ein taubes oder kribbelndes Gefühl?«
»Nein.«
»Hatten Sie Kopfschmerzen, oder war Ihnen schwindelig?«
»Nein.«
»Hatten Sie Herzklopfen?«
»Mein Herz hat gehämmert, aber erst, als ich so verwirrt war – es war eher wie eine Adrenalinreaktion auf die Angst. Ich kann mich erinnern, dass ich mich sogar richtig gut gefühlt habe, bevor es passiert ist.«
»Ist an diesem Tag irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen?«
»Nein, ich war gerade erst aus Los Angeles zurückgekommen.«
»Leiden Sie unter Hitzewallungen?«
»Nein. Das heißt, als ich die Orientierung verloren habe, habe ich etwas gespürt, das eine hätte sein können, aber ich glaube, es war einfach nur die Angst.«
»Okay. Wie schlafen Sie?«
»Gut.«
»Wie viele Stunden pro Nacht?«
»Fünf bis sechs.«
»Hat sich das in letzter Zeit geändert?«
»Nein.«
»Haben Sie Probleme mit dem Einschlafen?«
»Nein.«
»Wie oft wachen Sie nachts für gewöhnlich auf?«
»Überhaupt nicht, denke ich.«
»Gehen Sie jeden Abend zur selben Zeit zu Bett?«
»Im Allgemeinen ja. Außer auf Reisen, und das war in letzter Zeit oft der Fall.«
»Wohin sind Sie gereist?«
»In den letzten Monaten nach Kalifornien, Italien, New Orleans, Florida, New Jersey.«
»Waren Sie
Weitere Kostenlose Bücher