Mein Leben Ohne Gestern
waren klug, aber Anna musste sich abmühen, um Bestnoten zu erzielen, während Lydias tadellose Zeugnisse mit kaum erkennbarer Anstrengung und ohne großen Aufwand zustande kamen. Dem allerdings schenkte Anna Beachtung. Sie waren beide ehrgeizig und äußerst unabhängig, aber Anna ging nicht gern ein Risiko ein. Sie zog es vor, sich Ziele zu setzen, die erreichbar und konventionell waren und die dazu mit Sicherheit von deutlicher Anerkennung begleitet wurden.
»Gut«, sagte Alice.
»Ich kann nicht glauben, dass sie immer noch dort drüben ist. Ist sie denn schon irgendwo aufgetreten?«, fragte Anna.
»In diesem Stück letztes Jahr war sie fantastisch«, sagte John.
»Sie nimmt Unterricht«, sagte Alice.
Erst nachdem ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, fiel ihr wieder ein, dass John für Lydias Lehrplan, der zu keinerlei Abschluss führen würde, hinter ihrem Rücken die Kosten übernommen hatte. Wie hatte sie es vergessen können, mit ihm darüber zu reden? Sie warf ihm einen empörten Blick zu. Er landete genau in seinem Gesicht, und er spürte den Aufprall. Er schüttelte sanft den Kopf und strich ihr über den Rücken. Jetzt war nicht die Zeit oder der Ort dafür. Sie würde sich später mit ihm darüber streiten. Wenn sie sich dann noch daran erinnern konnte.
»Na ja, wenigstens tut sie etwas«, sagte Anna, sichtlich zufrieden, dass nun jeder auf dem Laufenden war, was den aktuellen Status der jüngsten Howland-Tochter betraf.
»Und Dad, wie läuft dein Tagging-Versuch?«, fragte Tom.
John beugte sich vor und holte zu einer detaillierten Erläuterung seiner neuesten Studie aus. Alice sah zu, wie ihr Ehemann und ihr Sohn, beide Biologen, sich in ihr analytisches Gespräch vertieften, wobei jeder der beiden versuchte, den anderen mit seinem Wissen zu beeindrucken. Die Ausläufer der Lachfältchen um Johns Augenwinkel, die sogar sichtbar waren,wenn er völlig ernst war, wurden tief und lebendig, wenn er von seiner Forschung sprach, und seine Hände bewegten sich dazu wie Puppen auf einer Bühne.
Sie liebte es, ihm dabei zuzusehen. Mit ihr sprach er nicht so detailliert und begeistert über seine Projekte. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Sie wusste immer noch genug über seine aktuellen Versuche, um sie auf einer Cocktailparty skizzieren zu können, aber nur in den gröbsten Zügen. Sie schätzte die inhaltsreichen Gespräche, die er früher mit ihr geführt hatte, wenn sie Zeit mit Tom oder Johns Kollegen verbrachten. Früher erzählte er ihr alles, und sie hörte ihm gebannt zu. Sie fragte sich, wann sich das geändert hatte und wer zuerst das Interesse verloren hatte – er am Erzählen oder sie am Zuhören.
Die Calamares, die Maine-Austern in Krabbenkruste, der Rucola-, Rote-Bete- und Apfelsalat und die Kürbisravioli waren sämtlich tadellos. Nach dem Essen sangen alle laut und falsch »Happy Birthday« und sorgten damit für großzügigen und belustigten Applaus von Stammgästen an anderen Tischen. Alice blies die einzige Kerze auf ihrem Stück warmem Schokoladenkuchen aus. Als alle ihre Flöten mit Veuve Cliquot hochhielten, erhob John seine noch ein bisschen höher.
»Alles Gute zum Geburtstag, meine schöne und brillante Frau! Auf deine nächsten fünfzig Jahre!«
Sie stießen alle an und tranken.
Auf der Damentoilette musterte Alice ihr Gesicht im Spiegel. Das Spiegelbild der älteren Frau entsprach nicht ganz dem Bild, das sie selbst von sich hatte. Ihre goldbraunen Augen sahen müde aus, obwohl sie völlig ausgeruht war, und die Struktur ihrer Haut erschien ihr matter und schlaffer. Sie war eindeutig älter als vierzig, aber sie würde nicht sagen, dass sie alt aussah. Sie fühlte sich nicht alt, auch wenn sie wusste, dass sie alterte. Ihr kürzlicher Eintritt in die nächsthöhere demografische Altersgruppe kündigte sich regelmäßig mit unerwünschtenEpisoden menopausaler Vergesslichkeit an. Davon abgesehen fühlte sie sich jung, kräftig und gesund.
Sie dachte an ihre Mutter. Sie sahen sich ähnlich. Das Gesicht ihrer Mutter, ernst und aufmerksam, Nase und Wangen von Sommersprossen übersät, hatte in Alice’ Erinnerung nicht eine Spur von Schlaffheit oder Falten. Sie hatte nicht lange genug gelebt, um sie zu bekommen. Sie starb mit einundvierzig. Alice’ Schwester Anne wäre jetzt achtundvierzig. Alice versuchte sich vorzustellen, wie Anne vielleicht aussehen würde, wenn sie heute Abend bei ihnen am Tisch sitzen würde, mit ihrem eigenen Mann und ihren Kindern, aber sie
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