Mein Leben Ohne Gestern
nicht tun. Da war sie sich sicher.
Ihr Haus in Chatham am Cape, erbaut im Jahr 1990, kam ihr größer, offener und weiträumiger vor als ihr Haus in Cambridge. Sie ging in die Küche. Es war eine völlig andere Küche als ihre zu Hause. Der blasse Gesamteindruck der weiß gestrichenen Wände und Küchenschränke, weißen Haushaltsgeräte, weißen Barhocker und weißen Bodenfliesen wurde von den Speckstein-Küchentresen und den kobaltblauen Spritzern auf diversen weißen Keramik- und durchsichtigen Glasbehälternnur leicht durchbrochen. Es sah aus wie eine Seite in einem Malbuch, die nur zögernd mit einem einzigen blauen Buntstift ausgemalt worden war.
Die beiden Teller und die benutzten Papierservietten auf dem Küchentisch zeugten von Salat und Spaghetti mit roter Sauce, die es zum Abendessen gegeben hatte. In einem der Gläser war noch ein Schluck Weißwein. Mit der distanzierten Neugier einer forensischen Wissenschaftlerin nahm sie das Glas in die Hand und testete die Temperatur des Weins an ihren Lippen. Er war noch immer ein bisschen kalt. Sie fühlte sich satt. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun.
Sie waren jetzt seit einer Woche in Chatham. In den vergangenen Jahren hatte sie sich nach einer Woche fernab der Alltagssorgen von Harvard immer längst an den entspannten Lebensstil am Cape gewöhnt und sich bereits in ihr drittes oder viertes Buch vertieft. Aber dieses Jahr war es der tagtägliche Terminplan von Harvard, wenngleich dicht gefüllt und anspruchsvoll, der ihr eine Struktur bot, die vertraut und beruhigend für sie war. Besprechungen, Symposien, Kurse und Termine waren für sie wie ausgestreute Brotkrumen gewesen, die sie durch jeden Tag leiteten.
Hier in Chatham hatte sie keinen Terminplan. Sie schlief lange, aß zu unterschiedlichen Zeiten und lebte einfach in den Tag hinein. Sie beendete jeden Tag mit ihren Medikamenten, sie machte jeden Morgen ihren Schmetterlingstest, und sie ging jeden Tag mit John laufen. Aber all das bot ihr nicht genügend Struktur. Sie brauchte größere und mehr Brotkrumen.
Oft wusste sie nicht, wie spät es war, oder auch nur, welcher Tag es war. Mehr als einmal wusste sie, wenn sie sich zum Essen setzten, nicht, welche Mahlzeit sie gleich einnehmen würden. Als ihr die Bedienung in der Sand-Bar gestern einen Teller mit frittierten Venusmuscheln hingestellt hatte, hätte sie sich mit genauso großem Appetit über einen Teller mit Pfannkuchen hergemacht. Und das Lesen fiel ihr unerträglich schwer.
Die Küchenfenster standen offen. Sie sah hinaus in die Auffahrt. Kein Wagen. Draußen lag der heiße Tag noch immer in der Luft, erfüllt vom Lachen einer Frau, den Lauten von Ochsenfröschen und dem Geräusch der Wellen vom Hardings Beach. Sie hinterließ für John eine Nachricht neben dem schmutzigen Geschirr:
Bin am Strand. Alles Liebe, A.
Sie sog die klare Nachtluft tief in sich ein. An dem weiten, mitternachtsblauen Himmel strahlten unzählige helle Sterne und eine Bilderbuch-Mondsichel. Es würde noch dunkler werden in dieser Nacht, aber es war schon jetzt dunkler, als es in Cambridge je wurde. Ohne Straßenlaternen und weit genug zurückgesetzt von der Hauptstraße, wurde diese Strandgegend nur von den Lichtern auf Veranden und in Häusern, einem gelegentlichen Autoscheinwerfer und dem Mond erhellt. In Cambridge hätte sie sich in einer solchen Finsternis allein nur ungern aus dem Haus gewagt, aber hier, an diesem kleinen Ferienort am Meer, fühlte sie sich völlig sicher.
Auf dem Parkplatz standen keine Autos, und am Strand war niemand sonst zu sehen. Die örtliche Polizei versuchte nächtliche Aktivitäten hier zu unterbinden. Um diese Zeit gab es hier keine kreischenden Kinder oder Möwen, keine Handygespräche, bei denen man nicht weghören konnte, kein aggressives Drängen, endlich zu der nächsten Unternehmung aufzubrechen, nichts, was den Frieden störte.
Sie ging zum Rand des Wassers und ließ das Meer an ihren Füßen lecken. Warme Wellen umspülten ihre Beine. Gegenüber dem Nantucket Sound gelegen, waren die geschützten Gewässer des Hardings Beach gut fünf Grad wärmer als die anderen Strände in der Umgebung, die dem kalten Atlantik unmittelbar ausgesetzt waren.
Sie zog zuerst ihr T-Shirt und ihren BH aus, dann, mit einereinzigen Bewegung, ihren Rock und ihren Slip und ging hinein. Das Wasser, ohne den Seetang, der normalerweise mit der Brandung hereinschwappte, umspielte milchig sanft ihre Haut. Sie begann, zum Rhythmus der Wellen
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