Mein Leben Ohne Gestern
zu atmen. Während sie, auf dem Rücken liegend, leicht Wasser trat, staunte sie über die schimmernden Tropfen, die wie Feenstaub sanft über ihre Fingerspitzen und Fersen perlten.
Mondlicht spiegelte sich auf ihrem rechten Handgelenk. SAFE RETURN stand eingraviert auf der Vorderseite ihres flachen, fünf Zentimeter breiten Armbands aus rostfreiem Stahl. Eine 1800er-Nummer, ihre Identifikationsnummer und die Worte Gedächtnis beeinträchtigt standen auf der Rückseite. Dann ritten ihre Gedanken auf einer Reihe von Wellen, reisten von ungewolltem Schmuck zu der Schmetterlingskette ihrer Mutter, von dort hinüber zu ihrem Selbstmordplan, zu den Büchern, die sie noch lesen wollte, und landeten schließlich bei den verwandten Schicksalen von Virginia Woolf und Edna Pontellier. Es wäre so einfach. Sie könnte in Richtung Nantucket hinausschwimmen, bis sie so erschöpft war, dass sie nicht mehr weiterkonnte.
Sie sah über das dunkle Wasser hinaus. Ihr Körper, kräftig und gesund, hielt sie Wasser tretend an der Oberfläche, kämpfte mit jedem Instinkt um ihr Leben. Na schön, sie konnte sich nicht erinnern, heute Abend mit John gegessen zu haben oder was er gesagt hatte, wohin er noch wollte. Und es konnte gut sein, dass sie sich morgen früh nicht mehr an diese Nacht erinnern würde, aber in diesem Augenblick fühlte sie sich nicht verzweifelt. Sie fühlte sich lebendig und glücklich.
Sie sah zurück zum Strand, auf die schwach erhellte Landschaft. Eine Gestalt näherte sich. Sie erkannte John, noch bevor sie seine Gesichtszüge sah, an seinem federnden Gang und der Länge seiner Schritte. Sie fragte ihn nicht, wohin er gegangen oder wie lange er fort gewesen war. Sie dankte ihm nichtdafür, dass er zurückgekommen war. Er schalt sie nicht dafür, dass sie ohne ihr Handy allein unterwegs war, und er forderte sie nicht auf, aus dem Wasser und nach Hause zu kommen. Wortlos zog er sich aus und kam zu ihr ins Meer.
»John?«
Sie fand ihn draußen bei der Garage, wo er den Anstrich erneuerte.
»Ich habe im ganzen Haus nach dir gerufen«, sagte Alice.
»Ich war hier draußen, ich habe dich nicht gehört«, sagte John.
»Wann fährst du zu deiner Konferenz?«, fragte sie.
»Montag.«
Er würde für eine Woche nach Philadelphia fahren, um an der Neunten Internationalen Jahreskonferenz über die Alzheimer-Krankheit teilzunehmen.
»Das ist nach Lydias Ankunft, oder?«
»Ja, sie kommt am Sonntag.«
»Ach ja, richtig.«
Auf Lydias schriftliche Anfrage hin hatte die Repertoire-Theatertruppe von Monomoy sie für diesen Sommer als Gastkünstlerin eingeladen.
»Bist du fertig zum Laufen?«, fragte John.
Der frühmorgendliche Nebel hatte sich noch nicht gelichtet, und die Luft erschien ihr zu kühl für ihre leichte Kleidung.
»Ich muss mir nur noch einen Pulli holen.«
Im Haus öffnete sie den Dielenschrank hinter der Tür. Passende Kleidung zur Tageszeit zu finden war im Frühsommer am Cape eine ständige Herausforderung, denn die Temperaturen lagen jeden Morgen bei allenfalls zehn Grad, stiegen bis zum Nachmittag auf fast dreißig an und fielen mit dem Einbruch der Nacht wieder unter zehn Grad ab, oft begleitet voneiner frischen Meeresbrise. Es erforderte eine gewisse Kreativität und die Bereitschaft, mehrmals täglich Kleidungsstücke über- und wieder abzustreifen. Sie berührte die Ärmel jeder Jacke im Schrank. Etliche davon wären jetzt ideal, um am Strand zu sitzen oder spazieren zu gehen, aber zum Laufen erschienen sie ihr alle zu schwer.
Sie lief die Treppe hoch und in ihr Schlafzimmer. Nachdem sie in mehreren Schubladen gesucht hatte, fand sie eine leichte Fleecejacke und schlüpfte hinein. Sie sah das Buch, in dem sie gelesen hatte, auf ihrem Nachttisch. Sie nahm es sich und ging die Treppe hinunter und in die Küche. Sie schenkte sich ein Glas Eistee ein und ging auf die Veranda hinter dem Haus. Der frühmorgendliche Nebel hatte sich noch nicht gelichtet, und es war kühler, als sie erwartet hatte. Sie stellte ihr Getränk und ihr Buch auf dem Tisch zwischen den weißen Adirondack-Stühlen ab und ging zurück ins Haus, um sich eine Decke zu holen.
Sie kam zurück, wickelte sich in die Decke, setzte sich auf einen der Stühle und schlug das Buch bei der umgeknickten Seite auf. Das Lesen fiel ihr schnell unerträglich schwer. Manche Seiten musste sie immer wieder lesen, um den Faden der These oder der Erzählung nicht zu verlieren, und wenn sie das Buch auch nur für kurze Zeit weglegte, musste sie
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