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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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manchmal ein ganzes Kapitel zurückblättern, um ihn wiederzufinden. Außerdem fiel ihr die Entscheidung schwer, was sie überhaupt lesen sollte. Was, wenn sie nicht mehr die Zeit haben sollte, alles zu lesen, was sie schon immer lesen wollte? Es tat ihr weh, Prioritäten zu setzen, zu wissen, dass die Uhr tickte, dass manche Dinge unerledigt bleiben würden.
    Sie hatte gerade mit König Lear begonnen. Sie liebte Shakespeares Tragödien, aber diese eine hatte sie noch nie gelesen. Leider blieb sie, fast schon gewohnheitsmäßig, bereits nach wenigen Minuten hängen. Sie las die vorangegangene Seite noch einmal, folgte der imaginären Linie unter den Wortenmit dem Zeigefinger. Sie trank das ganze Glas Eistee aus und beobachtete die Vögel in den Bäumen.
    »Ach, hier steckst du. Was machst du denn, wollten wir nicht laufen gehen?«, fragte John.
    »Oh ja, gern. Dieses Buch macht mich verrückt.«
    »Na, dann los.«
    »Fährst du heute zu dieser Konferenz?«
    »Montag.«
    »Und was haben wir heute?«
    »Donnerstag.«
    »Oh. Und wann kommt Lydia?«
    »Sonntag.«
    »Heißt das, bevor du wegfährst?«
    »Ja. Ali, ich habe dir das alles doch schon gesagt. Du solltest es in deinen Blackberry eintragen, ich glaube, dann würdest du dich sicherer fühlen.«
    »Okay, entschuldige.«
    »Bist du so weit?«
    »Ja. Augenblick, ich geh nur noch rasch pinkeln.«
    »Schön, ich bin draußen bei der Garage.«
    Sie stellte ihr leeres Glas neben der Spüle ab und warf die Decke und das Buch auf den Schonbezug des Polstersessels im Wohnzimmer. Sie war bereit, sich in Bewegung zu setzen, aber ihre Beine brauchten eine genauere Anweisung. Wofür war sie ins Haus gekommen? Sie ging ihre letzten Schritte noch einmal durch – Decke und Buch, Glas neben der Spüle, Veranda mit John. Er würde bald zur Internationalen Konferenz über die Alzheimer-Krankheit aufbrechen. Sonntag vielleicht? Sie würde ihn fragen müssen, um ganz sicher zu sein. Sie wollten laufen gehen. Draußen war es ein bisschen kühl. Sie war ins Haus gekommen, um sich eine Fleecejacke zu holen! Nein, das war es nicht. Sie hatte schon eine an. Zum Teufel damit .
    In dem Augenblick, als sie die Haustür erreichte, machte sich ein heftiger Druck in ihrer Blase bemerkbar, und ihr fielwieder ein, dass sie dringend pinkeln musste. Sie eilte den Flur wieder hinunter und öffnete die Tür zur Toilette. Nur dass es, zu ihrer absoluten Fassungslosigkeit, nicht die Toilette war. Besen, Mopp, Eimer, Staubsauger, Schemel, Werkzeugkasten, Glühbirnen, Taschenlampen, Putzmittel. Die Abstellkammer.
    Sie sah den Flur hinunter. Links die Küche, rechts das Wohnzimmer, das war alles. Auf dieser Etage gab es doch noch eine kleine Toilette, oder? Sie musste hier sein. Sie war genau hier. Nur dass sie nicht hier war. Alice eilte in die Küche, aber dort fand sie nur eine einzige Tür, die auf die Veranda hinter dem Haus führte. Sie stürzte ins Wohnzimmer, aber von dort ging natürlich keine Toilette ab. Sie hastete zurück in den Flur und hielt sich am Türknauf fest.
    »Bitte, Gott, bitte, Gott, bitte, Gott.«
    Sie riss die Tür auf wie ein Zauberkünstler, der seinen geheimnisvollsten Trick vorführt, aber die Toilette tauchte auch dort nicht wie durch ein Wunder auf.
    Wie kann ich mich in meinem eigenen Haus verirren?
    Sie überlegte, ob sie rasch die Treppe hochspringen sollte, zu dem großen Badezimmer, aber sie stand wie angewurzelt und entgeistert in dieser Grauzone, dieser toilettenfreien Dimension des Erdgeschosses. Sie konnte nicht länger an sich halten. Es kam ihr vor, als würde sie sich selbst von außen beobachten, diese arme, unbekannte Frau, die in der Diele stand und weinte. Es klang nicht wie das eher beherrschte Weinen einer erwachsenen Frau. Es war das verängstigte, besiegte und hemmungslose Schluchzen eines kleinen Kindes.
    Ihre Tränen waren nicht das Einzige, was sie nicht mehr unterdrücken konnte. John platzte in genau dem Augenblick zur Haustür herein, als der Urin ihr rechtes Bein hinunterrann und Alice’ Jogginghose, Socke und Turnschuh durchnässte.
    »Sieh mich nicht an!«
    »Alice, wein doch nicht, es ist alles gut.«
    »Ich weiß nicht mehr, wo ich bin.«
    »Es ist alles gut, du bist hier bei mir.«
    »Ich habe mich verlaufen.«
    »Du hast dich nicht verlaufen, Ali, du bist hier bei mir.«
    Er hielt sie und wiegte sie sanft, beschwichtigte sie, wie sie ihn ihre Kinder so oft hatte trösten sehen, wenn sie körperliche Verletzungen erlitten hatten oder

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