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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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soziale Ungerechtigkeit hatten ertragen müssen.
    »Ich konnte die Toilette nicht finden.«
    »Es ist ja gut.«
    »Es tut mir leid.«
    »Nicht doch, es ist ja gut. Komm schon, wir ziehen dir etwas anderes an. Es wird schon heiß, du brauchst sowieso etwas Leichteres.«

    Bevor John zu seiner Konferenz aufbrach, gab er Lydia genaue Anweisungen zu Alice’ Medikamenten, ihrer Laufroutine, ihrem Handy und dem Safe-Return-Programm. Und er gab ihr die Nummer ihres Neurologen, für alle Fälle. Als Alice seinen kleinen Vortrag in Gedanken noch einmal durchging, klang er fast wie die, die er ihren jugendlichen Babysittern gehalten hatte, bevor sie die Kinder mit ihnen allein ließen, um übers Wochenende nach Maine oder Vermont zu fahren. Jetzt musste sie selbst beaufsichtigt werden. Von ihrer eigenen Tochter.
    Nach ihrem ersten Abendessen zu zweit im Squire gingen Alice und Lydia schweigend die Main Street hinunter. Die Reihen mit Luxuslimousinen und SUVs, die am Straßenrand parkten, mit Fahrradhaltern und Kajaks auf den Dächern, vollgestopft mit Kinderwagen, Liegestühlen und Sonnenschirmen, mit Nummernschildern nicht nur aus Massachusetts, sondernauch aus Connecticut, New Jersey und New York, waren der Beweis, dass die Sommersaison nun offiziell in vollem Gange war. Familien schlenderten über den Gehsteig, ohne auf die Spuren für den Fußgängerverkehr zu achten, ohne Eile oder ein bestimmtes Ziel, hielten inne, bummelten ein Stück zurück und sahen sich Schaufenster an. Als hätten sie alle Zeit der Welt.
    Ein lockerer, zehnminütiger Spaziergang führte sie aus der verstopften Innenstadt. Vor dem Leuchtturm von Chatham blieben sie kurz stehen und genossen die Panoramaaussicht über den Strand, bevor sie die dreißig Stufen zum Sand hinuntergingen. Eine bescheidene Reihe von Sandalen und Flipflops wartete am unteren Ende, wo sie im Laufe des Tages abgestreift worden waren. Alice und Lydia stellten ihre Schuhe ans Ende der Reihe und gingen weiter. Auf dem Schild vor ihnen stand:
    ACHTUNG:
    Starke Strömung. Brandung unterliegt plötzlichen lebensbedrohlichen Wellen und Strömungen. Keine Küstenwache. Gefahrenzone für:
Schwimmen und Waten, Tauchen und Wasserski, Surfbretter und kleine Boote, Schlauchboote und Kanus.
    Alice sah und hörte das unaufhörliche Brechen der Wellen an der Küste. Ohne diesen gewaltigen Deich, den man an den Grundstücken der Millionen-Dollar-Häuser am Shore Drive entlang errichtet hatte, hätte sich der Ozean längst jedes Haus einverleibt, hätte sie alle ohne Mitleid oder Entschuldigung verschlungen. Sie stellte sich ihre Alzheimer-Krankheit wie diesen Ozean am Strand vor dem Leuchtturm vor – unaufhaltsam, wild, zerstörerisch. Nur dass es in ihrem Gehirn keine Deiche gab, um ihre Erinnerungen und Gedanken vor dem Ansturm zu schützen.
    »Es tut mir leid, dass ich nicht zu deinem Stück kommen konnte«, sagte Alice.
    »Schon gut. Ich weiß, dass es diesmal an Dad lag.«
    »Ich kann es kaum erwarten, dich in deinem neuen Stück in diesem Sommer zu sehen.«
    »Oje.«
    Die Sonne stand tief und unglaublich riesig an dem blaurosa Himmel, bereit, im Atlantik zu versinken. Sie gingen an einem Mann vorbei, der im Sand kniete, seine Kamera auf den Horizont gerichtet, und versuchte, diese flüchtige Schönheit einzufangen, bevor sie mit der Sonne verschwand.
    »Auf dieser Konferenz, zu der Dad gefahren ist, geht es doch um Alzheimer, oder?«
    »Ja.«
    »Versucht er, dort eine bessere Behandlung für dich zu finden?«
    »Ja.«
    »Meinst du, er wird eine finden?«
    Alice sah zu, wie die hereinbrechende Flut Fußspuren auslöschte, eine kunstvolle, mit Muscheln verzierte Sandburg einriss, ein Loch ausfüllte, das an diesem Tag mit Plastikschaufeln ausgehoben worden war, und die Geschichte dieses Tages von der Küste löschte. Sie beneidete die Bewohner um die schönen Häuser hinter dem Deich.
    »Nein.«
    Alice nahm eine Muschel in die Hand. Sie rieb den Sand ab, sodass ihr milchig weißer Glanz und die elegante rosa Maserung zum Vorschein kamen. Sie fühlte sich wunderbar glatt an, aber am Rand war sie an einer Stelle abgebrochen. Alice überlegte, ob sie sie ins Wasser werfen sollte, aber dann entschied sie sich, sie zu behalten.
    »Na ja, er würde sich doch sicher nicht die Zeit nehmen hinzufahren, wenn er nicht glauben würde, dass er irgendetwas herausfinden könnte«, sagte Lydia.
    Zwei Mädchen mit Universiy-of-Massachusetts-T-Shirts kamen ihnen kichernd entgegen. Alice lächelte sie an

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