Mein Leben Ohne Gestern
und sagte Hallo, als sie vorbeigingen.
»Ich wünschte, du würdest aufs College gehen«, sagte Alice.
»Mom, bitte.«
Alice wollte nicht, dass ihre gemeinsame Zeit mit einem ausgewachsenen Streit begann, daher gab sie sich schweigend ihren Erinnerungen hin, während sie weitergingen. Die Professoren, die sie geliebt und gefürchtet und vor denen sie sich lächerlich gemacht hatte, die Jungen, die sie geliebt und gefürchtet und vor denen sie sich noch lächerlicher gemacht hatte, die Nächte vor Prüfungen, in denen sie mit rauchenden Köpfen durchgelernt hatten, die Kurse, die Partys, die Freundschaften, die Begegnung mit John – ihre Erinnerungen an diese Zeit ihres Lebens waren lebendig, völlig intakt und leicht zugänglich. Sie traten fast ein bisschen überheblich auf, so komplett abrufbar, als hätten sie keine Ahnung von dem Krieg, der sich nur wenige Zentimeter links von ihnen abspielte.
Jedes Mal, wenn sie ans College dachte, kehrten ihre Gedanken zwangsläufig zum Januar ihres ersten Studienjahres zurück. Keine drei Stunden nachdem ihre Familie zu Besuch gewesen und wieder nach Hause aufgebrochen war, hatte Alice ein zögerndes Klopfen an der Tür ihres Wohnheimzimmers gehört. Sie entsann sich noch immer an jedes Detail des Dekans, der in ihrem Türrahmen gestanden hatte – die einzelne, tiefe Furche zwischen seinen Augenbrauen, das jungenhafte Element in seinem großväterlich grauen Haar, die kleinen Wollkügelchen überall auf seinem waldgrünen Pullover, den leisen, bedächtigen Ton seiner Stimme.
Ihr Vater hatte den Wagen von der Route 93 gegen einen Baum gefahren. Vielleicht war er am Steuer eingeschlafen. Vielleicht hatte er zum Essen zu viel
getrunken. Er trank immer zu viel zum Essen . Er lag in Manchester im Krankenhaus. Ihre Mutter und ihre Schwester waren tot.
»John? Bist du’s?«
»Nein, ich bin’s nur. Ich bringe die Handtücher ins Haus. Es wird gleich anfangen zu schütten«, sagte Lydia.
Die Luft war aufgeladen und schwer. Es würde Regen geben. Das Wetter hatte ihnen die ganze Woche tagsüber Postkartensonne und nachts ideale Temperaturen zum Schlafen beschert. Auch ihr Gehirn hatte die ganze Woche mitgespielt. Inzwischen erkannte sie den Unterschied zwischen Tagen, an denen sie Probleme damit haben würde, Erinnerungen und Worte und Toiletten zu finden, und Tagen, an denen ihr Alzheimer stillhielt und sie nicht störte. An diesen stillen Tagen war sie ihr normales Selbst, das Selbst, das sie verstand und dem sie vertraute. An diesen Tagen konnte sie sich fast einreden, dass Dr. Davis und die Genetikberaterin sich getäuscht hatten oder dass die letzten sechs Monate nur ein entsetzlicher Traum gewesen waren, ein Albtraum, und dass das Monster, das unter ihrem Bett lauerte und an ihrer Decke zerrte, nicht echt war.
Vom Wohnzimmer aus sah Alice zu, wie Lydia Handtücher zusammenlegte und auf einen der Küchenhocker stapelte. Sie trug ein hellblaues Tanktop mit Spaghettiträgern und einen schwarzen Rock. Sie sah frisch geduscht aus. Alice trug unter einem ausgeblichenen Strandkleid mit Fischmuster noch immer ihren Badeanzug.
»Soll ich mich umziehen?«, fragte Alice.
»Wenn du willst.«
Lydia stellte abgespülte Becher in den Küchenschrank und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Dann kam sie ins Wohnzimmer, sammelte die Zeitschriften und Kataloge von der Couch und dem Boden ein und stapelte sie auf dem Couchtisch ordentlich übereinander. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie nahm sich eine Ausgabe des Cape CodMagazine von dem Stapel, setzte sich auf die Couch und begann sie durchzublättern. Sie schienen Zeit totzuschlagen, aber Alice verstand nicht, warum. Irgendetwas stimmte nicht.
»Wo ist John?«, fragte Alice.
Lydia sah von der Zeitschrift auf, amüsiert oder verlegen oder vielleicht auch beides. Alice konnte es nicht sagen.
»Er müsste jeden Augenblick hier sein.«
»Das heißt, wir warten auf ihn.«
»Mmm.«
»Wo ist Anne?«
»Anna ist in Boston, bei Charlie.«
»Nein, Anne, meine Schwester, wo ist Anne?«
Lydia starrte sie an, ohne zu blinzeln. Alle Unbeschwertheit war aus ihrer Miene gewichen.
»Mom, Anne ist tot. Sie ist zusammen mit deiner Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«
Lydia wandte den Blick nicht von Alice ab. Alice hörte auf zu atmen, und ihr Herz verkrampfte sich wie eine Faust. Ihr Kopf und ihre Finger wurden taub, und die Welt um sie herum wurde dunkel und eng. Sie holte einmal tief Luft. Das erfüllte
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