Mein Leben Ohne Gestern
ihren Kopf und ihre Finger mit Sauerstoff, und es erfüllte ihr hämmerndes Herz mit Wut und Schmerz. Sie begann zu zittern und zu weinen.
»Nicht doch, Mom, das ist alles lange her, erinnerst du dich denn nicht mehr?«
Lydia redete mit ihr, aber Alice hörte nicht, was sie sagte. Sie spürte nur die Wut und den Schmerz, die durch jede Zelle ihres Körpers jagten, ihr krankes Herz und ihre heißen Tränen, und sie hörte nur noch ihre eigene Stimme in ihrem Kopf, die nach Anne und ihrer Mutter schrie.
John stand vor ihnen, vom Regen durchnässt.
»Was ist passiert?«
»Sie hat nach Anne gefragt. Sie glaubt, die beiden sind gerade erst gestorben.«
Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Er redete mit ihr, versuchte sie zu beschwichtigen. Warum ist er nicht bestürzt darüber? Er weiß es schon seit einer ganzen Weile, deswegen, und er hat es mir verschwiegen. Sie konnte ihm nicht vertrauen.
AUGUST 2004
Ihre Mutter und ihre Schwester starben, als sie in ihrem ersten Jahr auf dem College war. In ihren Familienalben gab es nicht eine Seite mit einem Bild von ihrer Mutter oder Anne. Es gab keine Spur von ihnen auf ihren Abschlussfeiern, ihrer Hochzeit oder mit ihr, John und den Kindern an Feiertagen, in Urlauben, an Geburtstagen. Sie konnte sich ihre Mutter nicht als alte Frau vorstellen, die sie inzwischen natürlich wäre, und Anne war in ihren Gedanken stets ein Teenager geblieben. Trotzdem war sie sich so sicher gewesen, dass die beiden jeden Augenblick zur Haustür hereinkommen würden, nicht als Geister aus der Vergangenheit, sondern gesund und munter, und dass sie kommen würden, um den Sommer zusammen mit ihnen in ihrem Haus in Chatham zu verbringen. Es war etwas beängstigend für sie, mittlerweile schon so verwirrt sein zu können, dass sie, nüchtern und hellwach, allen Ernstes einen Besuch von ihrer längst toten Mutter und Schwester erwartete. Und noch beängstigender war es, dass es für sie nur leicht beängstigend war.
Alice, John und Lydia saßen an ihrem Gartentisch auf der Terrasse beim Frühstück. Lydia redete über die Mitglieder ihres Sommerensembles und ihre Proben. Aber sie redete hauptsächlich mit John.
»Ich war so eingeschüchtert, bevor ich herkam, wisst ihr? Ich meine, ihr hättet ihre ganzen Biografien sehen sollen. Magisterabschlüsse in Theaterwissenschaften von der NYU undder Schauspielschule und Diplome von Yale, Broadway-Erfahrung.«
»Wow, das klingt ja nach einer sehr erfahrenen Truppe. In welchem Alter sind sie ungefähr?«, fragte John.
»Oh, ich bin mit Abstand die Jüngste. Die meisten sind in den Dreißigern und Vierzigern, aber es gibt auch einen Mann und eine Frau, die so alt sind wie du und Mom.«
»Mein Gott, so alt?«
»Du weißt, was ich meine. Jedenfalls, ich hatte keine Ahnung, ob sie mir nicht haushoch überlegen sein würden, aber die Ausbildung, die ich mir zusammengestellt habe, und die Rollen, die ich in letzter Zeit bekommen habe, haben mir wirklich das richtige Handwerkszeug mitgegeben. Ich weiß genau, was ich tue.«
Alice konnte sich erinnern, in ihren ersten Monaten als Professorin in Cambridge dieselbe Unsicherheit – und dann Erkenntnis – gehabt zu haben.
»Sie haben alle eindeutig mehr Erfahrung als ich, aber keiner von ihnen hat Meisner studiert. Sie haben alle Stanislawsky oder die ›Method acting‹ studiert, aber ich glaube wirklich, Meisner ist der überzeugendste Ansatz für echte Spontaneität im Spiel. Das heißt, ich habe vielleicht nicht so viel Bühnenerfahrung wie sie, aber dafür bringe ich etwas Einzigartiges in die Truppe mit ein.«
»Das ist wirklich toll, Schatz. Das ist vermutlich einer der Gründe, weshalb sie dir die Rolle gegeben haben. Was genau heißt eigentlich ›Spontaneität im Spiel‹?«, fragte John.
Genau das hatte sich Alice auch schon gefragt, aber ihre Worte, zähflüssig in klebriger Amyloid-Masse, hinkten hinter Johns her, wie in letzter Zeit so oft in Echtzeit-Gesprächen. Daher hörte sie nur zu, wie sie mühelos plauderten, sich von ihr mit dem Gespräch entfernten und sie zurückließen. Sie waren wie Figuren auf einer Bühne, während sie auf ihrem Platz im Publikum saß und ihnen zusah.
Alice schnitt ihren Sesambagel in zwei Hälften und biss einmal davon ab. Sie aß ihn nicht gern ohne etwas darauf. Mehrere Aufstriche standen zur Auswahl auf dem Tisch – Wilde-Blaubeer-Konfitüre aus Maine, ein Glas Erdnussbutter, ein Stück Butter auf einem Teller und eine Schale mit weißer Butter. Aber es
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