Mein Leben Ohne Gestern
hieß nicht weiße Butter. Wie hieß es gleich wieder? Nicht Mayonnaise. Nein, es war dicker, wie Butter. Wie hieß es bloß? Sie deutete mit dem Buttermesser darauf.
»John, kannst du mir das bitte reichen?«
John reichte ihr die Schale mit der weißen Butter. Sie strich sie dick auf eine der beiden Bagelhälften und starrte sie an. Sie wusste genau, wie es schmecken würde und dass sie es mochte, aber sie konnte es nicht über sich bringen, davon abzubeißen, bis sie den Namen dafür sagen konnte. Lydia sah, wie ihre Mutter ihren Bagel musterte.
»Frischkäse, Mom.«
»Richtig. Frischkäse. Danke, Lydia.«
Das Telefon klingelte, und John ging ins Haus, um dranzugehen. Der erste Gedanke, der Alice durch den Kopf schoss, war, dass es ihre Mutter war, die anrief, um sie wissen zu lassen, dass sie sich verspäten würde. Der Gedanke, scheinbar realistisch, erschien ihr ebenso logisch wie die Erwartung, dass John binnen weniger Minuten an den Frühstückstisch zurückkehren würde. Alice korrigierte den unbesonnenen Gedanken, schalt sich dafür und tat ihn ab. Ihre Mutter und ihre Schwester waren gestorben, als sie in ihrem ersten Jahr auf dem College war. Es machte sie rasend, sich das immer wieder in Erinnerung rufen zu müssen.
Allein mit ihrer Tochter, zumindest für einen Augenblick, ergriff sie die Gelegenheit, zu Wort zu kommen.
»Lydia, was hältst du denn davon, zu studieren und einen Abschluss in Theaterwissenschaften zu machen?«
»Mom, hast du denn kein Wort von dem verstanden, was ich eben gesagt habe? Ich brauche keinen Abschluss.«
»Ich habe jedes Wort gehört, das du gesagt hast, und ich habe alles verstanden. Ich dachte nur in einem größeren Kontext. Ich bin sicher, es gibt Aspekte deiner Kunst, die du noch nicht erkundet hast, Dinge, die du noch lernen könntest, vielleicht sogar Regie? Die Sache ist die, ein Abschluss eröffnet dir einfach mehr Türen, falls du sie je brauchen solltest.«
»Und was sind das für Türen?«
»Na ja, zum einen hättest du mit einem Abschluss die Voraussetzungen dafür zu unterrichten, solltest du das je wollen.«
»Mom, ich will Schauspielerin werden, keine Lehrerin. Das bist du, nicht ich.«
»Das weiß ich, Lydia, das hast du mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben. Ich meinte ja auch nicht unbedingt als Dozentin an einer Universität oder einem College, obwohl du das auch könntest. Ich dachte nur, du könntest eines Tages vielleicht selbst Workshops leiten, so wie die, zu denen du jetzt gehst und die dir so gut gefallen.«
»Mom, es tut mir schrecklich leid, aber ich werde meine Energie nicht damit verschwenden, mir zu überlegen, was ich tun könnte, falls ich nicht gut genug bin, um als Schauspielerin den Durchbruch zu schaffen. Ich muss nicht so an mir zweifeln.«
»Ich bezweifle ja gar nicht, dass du als Schauspielerin Erfolg haben kannst. Aber was, wenn du dich eines Tages entscheiden solltest, eine Familie zu gründen, und gern ein bisschen kürzertreten, aber trotzdem im Geschäft bleiben möchtest? Workshops zu geben, vielleicht sogar von zu Hause aus, könnte eine hübsche, flexible Option sein. Außerdem kommt es oft nicht darauf an, was man kann, sondern wen man kennt. Das ganze Netzwerk, das dir Kommilitonen, Professoren, Ehemalige bieten – ich bin sicher, es gibt da einen engeren Kreis, zu dem du ohne Abschluss oder einschlägige Berufserfahrung keinen Zugang hast.«
Alice schwieg, wartete auf Lydias »Ja, aber«, doch sie sagte nichts.
»Denk einfach darüber nach. Das Leben wird nur anstrengender. Es wird schwerer, irgendwo unterzukommen, je älter man wird. Sprich doch mit ein paar Leuten in deinem Ensemble und lass dir von ihnen erzählen, was man mitbringen muss, wenn man in den Dreißigern und Vierzigern oder noch älter ist und weiterhin als Schauspieler Erfolg haben will. Okay?«
»Okay.«
Okay. Das war der größte gemeinsame Nenner, auf den sie bei diesem Thema je gekommen waren. Alice überlegte, worüber sie sonst noch reden könnten, aber ihr fiel einfach nichts ein. Sie hatten schon so lange über nichts anderes mehr geredet. Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge.
»Mom, wie fühlt sich das an?«
»Wie fühlt sich was an?«
»Alzheimer zu haben. Kannst du im Augenblick fühlen, dass du es hast?«
»Na ja, im Augenblick bin ich nicht verwirrt und wiederhole mich nicht, aber erst vor ein paar Minuten ist mir das Wort für ›Frischkäse‹ nicht eingefallen, und es fiel mir schwer, der Unterhaltung
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