Mein letzter Tampon
den unzähligen schlaflosen Nächten haderst du mit deinen Schwächen, die plötzlich offen vor dir liegen. Und du erkennst, dass es die gleichen Schwächen sind, die dich an deiner Mutter lebenslang gestört und die du an deinem Vater so gehasst hast. Überhaupt scheinen wir mit zunehmendem Alter unseren Eltern immer ähnlicher zu werden. Wenn du dein ganzes Leben lang davon überzeugt warst, dass du jede Herausforderung freudig annehmen würdest, stellst du plötzlich fest, dass du die gleichen Vermeidungsstrategien hast wie Mutti. Oder du siehst, dass du genauso ungerecht und übellaunig sein kannst wie Vati. Zum ersten Mal erkennst du, dass du ein übersteigertes Harmoniebedürfnis hast oder ein überzogenes Kontrollbedürfnis. Das bringt dich schier zur Raserei, denn genau das konntest du an anderen Menschen noch nie leiden. Deine eigene Feigheit schlägt dir ins Gesicht wie der faulige Atem des Mannes neben dir in der U-Bahn. Deine Antriebslosigkeit macht dich wahnsinnig, und natürlich gibt es immer wieder Tage, an denen du morgens aus dem Bett springst und dir schwörst: Ab heute wird alles anders. Dieser gute Vorsatz hält ungefähr bis zum Abräumen des Frühstückstisches. Natürlich kannst du noch viele Jahre so weitermachen. Das führt ausschließlich dazu, dass du dich von Tag zu Tag schlechter fühlst, dich immer kleiner machst und zum Schluss überhaupt nicht mehr leiden magst.
Verabschiede dich einfach von dem Gedanken, dass du dich noch ändern kannst. Dazu bist du entschieden zu alt. Schau dir mal die Menschen an, die du magst.
Da ist deine Freundin Annette. Sie klatscht und tratscht gern, kommt regelmäßig zu spät und redet ohne Punkt und Komma. Trotzdem ist sie deine beste Freundin. Denn mit Annette kannst du sogar noch lachen, wenn dir eigentlich zum Weinen zumute ist. Annette hat immer zu dir gehalten und ist das warmherzigste Wesen, das du in deinem Leben getroffen hast. Du verzeihst ihr seit fünfunddreißig Jahren, dass du jedes Mal, wenn ihr euch trefft, mindestens zwanzig Minuten warten musst.
Oder da ist deine Tochter. Sie ist bildhübsch, begabt und emsig im Beruf. Aber in ihrer kleinen Wohnung sieht es immer aus, als ob gerade eine wilde Party gefeiert worden wäre. Du kannst die Wohnung nur betreten, wenn du ohne zu atmen zum nächsten Fenster stiefelst und es aufreißt. Trotzdem schwärmst du allen Freunden vor, was für eine tolle Tochter du hast.
Denk mal an deinen Mann. Er hat zehn Kilo Übergewicht, kaum noch Haare und wird nicht gerade vom Ehrgeiz zerfressen. Dafür kann er zehngängige Menüs kochen, kennt von den besten Lagen die besten Jahrgänge und sammelt wie ein Eichhörnchen das ganze Jahr hübsche Sachen, die er dir zum Geburtstag schenken will. Er vergisst nie euren Hochzeitstag und bringt dir am Freitag frische Blumen mit. Was macht da schon eine Glatze oder vielleicht eine nur mittelprächtige Position im Beruf? Du liebst ihn genauso, wie er ist.
Schau dir mal deine Katze an. Die klaut dir regelmäßig die Wurst vom Brot, pinkelt neben ihre Katzentoilette und hält deine Seidenbluse für eine fantastische Schaukel. Liebst du sie deshalb weniger? Nicht eine Sekunde, stimmt’s?
Wenn du also bereit und willens bist, anderen ihre Fehler zu verzeihen, warum zum Teufel verzeihst du dir nicht selbst? Kein Mensch auf dieser Welt ist perfekt, warum willst du unbedingt die Erste sein, die einen hundertprozentigen Perfektionsgrad erreicht?
Setz dich also, wenn du nicht schlafen kannst, in deinen Lieblingssessel.
Nimm dir Papier und Kugelschreiber und dann schreibe auf, was du an dir magst und was du verabscheust. Du wirst zu deinem größten Erstaunen feststellen, dass die Liste mit dem, was du wirklich an dir magst, mindestens dreimal so lang ist wie die Eigenschaftsliste, für die du dich in deinen dunklen Stunden schämst. Und nun überlege mal, dass du trotz dieser schlechten Eigenschaften eigentlich ganz gut bisher durch die Welt gekommen bist. Und dann verzeihe dir.
Die eigene Biografie akzeptieren
Nicht wenige von uns stapfen regelmäßig zum Psychotherapeuten. Nichts gegen Psychotherapeuten, es gibt Menschen, die dort ganz gut aufgehoben sind. Die meisten Menschen kommen aber auch ohne gut zurecht. Was nicht heißt, dass man sich nicht mal Gedanken darüber machen sollte, wieso man eigentlich so geworden ist, wie man nun mal ist. Warum also dieses Harmonie- oder Kontrollbedürfnis, diese Feigheit, dieser Neid, diese Verklemmtheit oder was auch immer?
Das
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