Mein Mutiger Engel
Gnaden, darf ich Sie einen Augenblick sprechen?"
"Selbstverständlich, meine Liebe. Vielleicht in der Bibliothek?" Dort angekommen, nahm Katherine auf einem Stuhl Platz, den er ihr anbot. Wenn sie doch nur Zeit gehabt hätte, sich passende Worte zurechtzulegen! "Stimmt etwas nicht, Katherine?"
"Euer Gnaden, bitte verzeihen Sie meine Anmaßung … ich muss mit Ihnen über Nicholas reden." Da er gewillt schien, ihr zuzuhören, fuhr sie hastig fort: "Er liebt Sie ja so sehr und ist so stolz auf Sie! Ich glaube, Sie empfinden dasselbe für ihn, aber Sie zeigen es einander nicht. Dabei sehe ich, dass Sie beide darunter leiden."
Der alte Herr verzog den Mund, woraufhin Katherine für einen Augenblick den Atem anhielt. Doch er sagte bloß: "Sprich weiter."
"Aus Wut und aus verletztem Stolz ist er sechs Jahre lang fortgeblieben. Gewiss, er muss Ihnen reichlich Anlass zum Zorn gegeben haben. Aber Sie wussten, dass er sich in London aufhielt, und schickten dennoch nicht nach ihm oder suchten ihn persönlich auf. Er war damals sehr jung und sehr stolz, was er Ihrer Erziehung verdankte. Dieser Stolz hat ihn so verhärtet, dass es ihm heute schwerfällt, den ersten Schritt zu machen. Euer Gnaden, Sie haben ihn bei seiner Heimkehr sehr kühl und ironisch empfangen. Wenn ich daran denke, wie warmherzig mein Vater uns Kinder immer behandelte, sogar wenn wir ihn verletzt oder enttäuscht hatten …"
"Ich kann mir kaum vorstellen, dass du deine Eltern je enttäuscht hast, Katherine", warf der Duke sanft, ohne jeden spöttischen Unterton ein.
"Oh, doch", beteuerte sie. "Das tun alle Kinder hin und wieder. Wenn sie aber wissen, dass sie geliebt werden, bemühen sie sich beim nächsten Mal umso stärker."
"Ich liebe meine beiden Söhne, und ich bin stolz auf sie!"
"Aber zeigen Sie es ihnen auch?" Allmählich fühlte sich Katherine zuversichtlicher. "Wussten Sie, dass Nicholas bei Waterloo gekämpft hat? Dass zwei Pferde unter ihm weggeschossen wurden?"
"Er erwähnte einmal, dass er an der Schlacht teilgenommen hat." Nach kurzem Zögern fuhr der Duke fort: "In jenem Augenblick brachte ich vor Grauen kaum ein Wort heraus, und ich empfand unsäglichen Stolz. Aber seine steife, korrekte Haltung drückte unmissverständlich aus, dass er mir seine verheerenden Erfahrungen nicht mitteilen wollte. Daher schwieg ich."
"Er würde mit Ihnen darüber sprechen, wenn Sie ihn nur danach fragen. Hat er Ihnen erzählt, dass wir auf dem Weg hierher von Wegelagerern überfallen wurden?"
Der Duke zog die Augenbrauen hoch. "Nein."
Trotz ihrer Anspannung musste Katherine unwillkürlich lachen. "Er war wundervoll – so geistesgegenwärtig und mutig! Er stieg aus der Kutsche, gab sich als Black Jack Standon aus und zeigte ihnen die Wunde an seinem Hals." Sie zögerte. "Ich sah ihn, als man ihm den Strick um den Hals legte. Dort kannte niemand seine wahre Herkunft, aber er wusste, was er seinem Namen schuldete. Er wusste, wie ein Lydgate in den Tod geht. Das haben Sie ihn von klein auf gelehrt."
Plötzlich verbarg der Duke das Gesicht in seinen Händen. Ohne zu überlegen, kniete Katherine neben seinem Stuhl nieder und legte ihre Arme um ihn. "Ach, Sir, bitte lassen Sie nicht zu, dass Sie und Ihr Sohn sich aus reinem Stolz noch weiter entfremden!"
Als er nach einer Weile den Kopf hob, sah sie, dass Tränen in seinen Augen standen. "Ich danke dir, meine Liebe. Wahrscheinlich hat es dich einige Überwindung gekostet, mich auf dieses Thema anzusprechen."
"Jawohl, Euer Gnaden."
"Wie ich sehe, steht dein Mut dem meines Sohnes in nichts nach. Ich werde deinen Rat beherzigen, das verspreche ich dir. Vielleicht könntest du ihn, wenn er endlich aufgestanden ist, bitten, zu mir in die Bibliothek zu kommen. Und noch etwas, Katherine", fügte er hinzu, als die junge Frau sich zur Tür wandte. "Kennst du das Sprichwort: Ein Esel schilt den anderen ein Langohr?"
"Ja, Euer Gnaden", erwiderte sie verblüfft.
"Darf ich dir in aller Bescheidenheit empfehlen, es auf dich selbst anzuwenden?"
23. Kapitel
Nun stand Katherine erst recht vor einem Rätsel. Was meinte der Duke damit? Tief in Gedanken versunken, kehrte sie in die Lange Galerie zurück, wo sie auf ihren Gatten traf.
"Ah, Nick. Dein Vater möchte in der Bibliothek mit dir sprechen."
"Ja, selbstverständlich. Katherine, wie …"
"Geh schon, er wartet auf dich", fiel sie ihm ins Wort, wobei sie ihn in die Richtung schob, aus der sie gekommen war. Dann suchte sie ihren Lieblingsplatz am Fenster
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