Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. K. Stead
Vom Netzwerk:
konnte ich nicht deuten.
    Die beiden Gekreuzigten neben Jesus waren Räuber und Wegelagerer, sie waren vor ihm ans Kreuz genagelt worden. Auch sie waren noch bei Bewusstsein und litten große Qualen. Ihre Familien standen weinend unter ihren Kreuzen. Doch es gab auch Spötter. Einer rief Jesus zu, er solle beweisen, dass er Wunder vollbringen könne, und vom Kreuz herabsteigen. »Lass uns nicht warten, Jesus«, tönte er. »Zeig, was du kannst! Wenn du dich beeilst, kannst du noch zum Abendessen zu Hause sein.«
    In den folgenden Stunden dieses heißen Tages konnte ich immer nur eines denken: dass es bald vorbei sein möge und Jesus schnell stürbe. Bei Kreuzigungen dauert es lange, bis der Tod eintritt. Ich hatte von Männern gehört, die drei ganze Tage leiden mussten, ehe es so weit war. Doch diejenigen unter den Schaulustigen, die sich mit Kreuzigungen auskannten, sprachen davon, dass es heute schneller gehen würde, weil am Abend der Sabbat begann und die Tempelherren nicht duldeten, dass die Sterbenden noch nach Sonnenuntergang zu sehen waren. Deswegen würde man den Gekreuzigten die Beine brechen, um ihren Tod zu beschleunigen. Ich erschrak, als ich das hörte. Doch es kam anders: Jesus starb durch eine Lanze.
    Es passierte im Laufe des Nachmittags, als sich eine Wolke vor die Sonne schob. Ich stand ganz in der Nähe des Kreuzes und hatte kurz zuvor den Eindruck gehabt, dass Jesus mich sah und erkannte. Ich hoffte, dass er bei aller Qual, die er durchmachte, wenigstens wusste, dass sein ältester Freund aus Kindertagen bei ihm war. Danach wurde sein blutiger Leib so von Fliegen umschwirrt, dass ich seine Miene nicht mehr deuten konnte, aber ich wusste, dass er noch nicht ohnmächtig war, weil er zuckte und stöhnte, wenn auch nicht mehr so häufig. Dann krümmte er plötzlich den Rücken, als wollte er sich vom Kreuz abstoßen, warf den Kopf in den Nacken und rief: »Gott im Himmel, warum hast du mich verlassen?«
    Es war ein Protestschrei und das letzte Mal, dass ich seine einzigartige Stimme hörte. Noch heute höre ich ihn diesen Satz sagen, wenn ich meine Gedanken schweifen lasse oder träume. Dieser Satz hat mich gelehrt, dass es keinen Gott gibt. Hätte es je einen gegeben und hätte Er seinem treuen Sohn und Diener ein solches Ende bereitet, so wäre Er in diesem Moment vor Scham gestorben. Oder es hatte damals tatsächlich noch einen Gott gegeben, der in diesem Moment jedoch starb. In dem Fall wäre alles, was uns blieb, eine Erinnerung, ein Gerücht, der Schatten einer Erinnerung an Vergangenes, in die Welt getragen von Männern wie Ptolemäus und Paulus – fliegende Händler, deren Ware das Unfassbare, das Göttliche, das Ewige, das Erloschene ist.
    Tief und langsam wurde Jesus die Lanze ins Herz gestoßen, beinahe ehrfürchtig, als wollte der römische Soldat, der sie führte, seine Sache besonders gut machen und dem Verurteilten seinen Respekt zollen, falls es denn wirklich der Sohn Gottes sein sollte, dem er den Gnadenstoß gab. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis sie ganz in Jesu Brust steckte. Als sie eingeführt wurde, blitzte und blinkte die Spitze noch, und als der Soldat sie wieder herauszog, hatten Blut und Schleim ihr jeglichen Glanz genommen. Blut und eine wässrige Flüssigkeit rannen aus der frischen Wunde. Jesus atmete noch einmal tief ein, und als er wieder ausatmete, sagte er etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann war er tot. Ich dankte Gott – wem sonst hätte ich danken sollen –, dass es vorbei war.
    Die Soldaten beeilten sich, die Toten von den Kreuzen zu holen, weil sie mit der Arbeit schnell fertig werden und in ihre Kaserne zurückkehren wollten. Als sie Jesus herunternahmen, wurde Martha, die ihre Schwester vorher so tapfer beruhigt hatte, selbst von einem Weinkrampf überwältigt. Sie kreischte den diensthabenden Zenturio an und wollte mit den Fäusten auf ihn losgehen. Er hielt sie in Armeslänge auf Abstand, blieb ganz ruhig und versuchte sie zu beruhigen. Er war mittleren Alters, pockennarbig und hatte wahrscheinlich schon manche Schlacht und auch Kreuzigung mitgemacht. In gebrochenem Aramäisch redete er auf sie ein, warf hier und da einen Brocken Griechisch dazwischen und sagte so etwas wie: »Wir machen hier nur unsere Arbeit, gute Frau. Auch wenn wir so was wie das hier nicht gern tun, müssen wir die Gesetze befolgen.«
    Martha schien zu merken, dass er es gut mit ihr meinte, und ihre Wut wandelte sich in Tränen. Dann fiel sie ihrer Schwester

Weitere Kostenlose Bücher