Mein Name war Judas
halten zu können.
Ich ließ ihn in diesem Irrglauben. Er war der Schlüssel zu meinem Neuanfang. Was hätte ich auch erreicht, außer mittellos vor die Tür gesetzt zu werden, hätte ich ihm gestanden, dass ich Jesus nicht nur nicht für Gottes Sohn hielt, sondern nicht einmal mehr an »seinen Vater« glaubte?
Er wusste, dass ich bei der Kreuzigung zugesehen hatte und verzweifelt war, und er verzichtete darauf, mich seine Genugtuung über den Tod meines Freundes spüren zu lassen. Trotzdem betrachtete er die Kreuzigung Jesu anstelle von Barabbas als einen Sieg Kaiphas’ über den römischen Statthalter. Als ich ihm gleich am ersten Abend erzählte, dass ein wohlhabender Kaufmann Jesus in der Gruft seines Gartens hier in der Stadt beerdigen wollte, sagte er: »Das können wir nicht zulassen.«
Ich fragte ihn, wer das verhindern solle. »Der Mann hat die Erlaubnis vom Statthalter persönlich bekommen.«
Mein Onkel lächelte still und nickte. »Wenn es so ist, kann man dagegen nichts machen.«
Doch mich konnte er nicht täuschen. Ich spürte genau, dass er keine Sekunde glaubte, man könne »dagegen nichts machen«. Als ich zwei Tage darauf hörte, dass der Stein vor der Gruft des Nachts entfernt worden und der Leichnam verschwunden war, wusste ich, dass es das Werk der Tempelpriester und der Sanhedrin war. Wenn sie es nicht selbst getan hatten, so hatten sie es zumindest veranlasst. Rückblickend betrachte ich es als eine Ironie der Geschichte, dass die Priesterschaft, die mit diesem Akt der Grabräuberei eine Ausweitung des Jesuskults verhindern wollte, in Wahrheit für dessen Triumph sorgte, indem sie den Mythos von Jesu Auferstehung schuf.
Natürlich »sahen« seine Anhänger ihn nach der Kreuzigung wieder. Überall kursierten Geschichten von solchen Begegnungen, in allen erdenklichen Varianten. In der Nähe des Grabes wurde er gesehen, in Galiläa, auf der Straße nach Emmaus, manchmal von einer Person, manchmal von mehreren, einmal sogar von fünfhundert. Je nach Bericht sah er ganz anders aus oder genauso wie früher – immer aber war es eindeutig er. Manchmal sprach er, manchmal schwieg er. Einem Manne befahl er, ihn anzufassen, einem anderen, seine Wundmale zu berühren. Ptolemäus erzählt seinen treuen Zuhörern die rührende Geschichte – die er vom Hörensagen kennt –, wie Jesus, ganz in Weiß gekleidet, gen Himmel fährt, zum Vater, und auf dem Weg nach oben immer kleiner wird, bis nur noch ein leuchtender Punkt zu sehen ist, der langsam verblasst und schließlich ganz verschwindet.
Auch ich habe Jesus nach seinem Tode wiedergesehen. Als die Erinnerung an die Kreuzigung noch frisch war und mich nachts nicht schlafen ließ, sah ich ihn bald auf der Straße, bald in einer Menschenmenge, hörte seine Stimme aus einem offenen Fenster – genauso wie ich Judith nach ihrem Tod überall zu hören und sehen glaubte. In meinen Träumen sehe ich die beiden immer noch, wenn auch nie zur gleichen Zeit. Die Toten begleiten uns überallhin. Doch sie sind tot, und wir täten gut daran, das zu akzeptieren.
Je mehr Zeit verging, desto mehr linderte die Trauer meine Wut. Mein Onkel hatte Mitleid mit mir. Er kaufte mir neue Kleider und gab mir Geld, nicht einmal wenig. Er war wirklich sehr großzügig. Er riet mir, eine Reise zu machen und mich gründlich zu erholen. Ich folgte seinem Rat und gelangte nach mancherlei Abenteuern nach Tyros. Nach noch mehr Abenteuern, inklusive des Blitzschlags, der den Ochsenkarren mit all meinen Habseligkeiten (außer meinem Geldbeutel und der Gewandspange) in Flammen aufgehen ließ, erreichte ich schließlich dieses schöne Dorf am Meer, südlich von Sidon, wo ich meine zweite Frau kennenlernte.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Heute nährt
der Regen
meinen Obstgarten.
Hektor ist
draußen und
spielt Soldat.
Ich sehe ein
Fischerboot reichen
Fang anlanden.
Gewiss ist Elektra
dort und kauft
frischen Fisch für uns.
Warum muss ich
weinen? Es ist
doch lange her, und
die Dinge nehmen
ihren Lauf, so oder
so. Die Zeit heilt
Wunden, heißt es.
Beweine ich mich selbst
und nicht den Freund?
Der Schmerz ist
groß. Doch der
Regen schön.
Kapitel 22
Früher dachte ich, Jesu Geschichte hätte mit dem Kreuzestod meines Freundes geendet, doch das scheint nicht der Fall zu sein. Die Jahre vergehen, und der Strom der Evangelisten reißt nicht ab. Je mehr Zeit vergeht, desto größer wird diese Geschichte. Heute glaubt man zu wissen, dass Jesus seine
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