Mein Name war Judas
an den Hohepriester und sprach ihn an, ohne die Stimme zu senken. Er kam mir wie ein deklamierender Schauspieler vor. »Im Rahmen der Passahfeierlichkeiten ist es, wie Ihr wisst, Tradition, dass ich einen verurteilten Verbrecher freilasse und ihn dem Volke aushändige. Abgesehen von zwei Wegelagerern, die niemanden interessieren, gibt es zwei weitere Verurteilte – Barabbas, einen Rebellen, und nun diesen Jesus von Nazareth, den Gotteslästerer. Ich schlage vor, dass ich Euch den Gotteslästerer überlasse. Er wird ausgepeitscht und dann freigelassen.«
Die Menge protestierte. »Kreuzigt Jesus!«, rief jemand. »Gebt uns Barabbas!«
Plötzlich riefen alle: »Kreuzigt Jesus, gebt uns Barabbas! Kreuzigt Jesus, gebt uns Barabbas! «
Pilatus hob die Hand, und die Menge verstummte. »Das ist der König der Juden, und ihr wollt ihn nicht haben?«
»Nein!«, rief jemand.
»Du kannst ihn behalten«, rief ein anderer, und alles lachte.
»Bei allem Respekt, Exzellenz«, sagte Kaiphas, »dieser Mann ist kein König. Er ist ein Zimmermannssohn aus der Provinz.«
»Und wer ist dieser Barabbas?«, fragte Pilatus. »Warum wollt ihr ihn? Er ist ein Mörder, der sich gegen Rom aufgelehnt hat.«
»Er ist zweifellos ein Verbrecher, Exzellenz, ein Unwürdiger, aber kein Gotteslästerer.«
Pilatus spottete: »Ihr meint, er greift eure Autorität nicht an?«
Kaiphas antwortete wohlüberlegt: »Es ist Eure Autorität, Exzellenz, die Autorität Roms, die von diesem ›König Jesus‹ angegriffen wird. Denn wer kann die Herrschaft über die Juden für sich beanspruchen, wenn nicht Kaiser Tiberius? Daher sage ich: Wenn Ihr dem Volk einen dieser Männer aushändigen wollt, wäre es eine fragwürdige Wahl, denjenigen zu nehmen, der sich Eurer Herrschaft so offen widersetzt.«
Kaiphas blickte in die Menge, die wieder zu skandieren begann: »Kreuzigt Jesus, gebt uns Barabbas!«
Pilatus fühlte sich sichtlich unwohl auf seinem Richterstuhl, kaute nachdenklich an seinem Daumennagel und blickte stirnrunzelnd in die Menge. Ich fragte mich, ob er Jesus nur zum Tode verurteilt hatte, um ihn dann wieder freilassen und den Schwerverbrecher Barabbas hinrichten zu können.
Die Menge hörte nicht auf, Jesu Kreuzigung zu fordern, und Pilatus schien zu dem Schluss zu kommen, dass es klüger war, dieses Mal nachzugeben. Abrupt stand er auf, stemmte die Hände in die Hüften und starrte grimmig in die Menge. Reglos blieb er so stehen, bis die Leute sich beruhigten und schließlich ganz still wurden.
»Es ist eines Repräsentanten Roms nicht würdig, mit Euch Haarspaltereien zu betreiben, Hohepriester. Wenn es das ist, was Jerusalem will, so soll Jerusalem es bekommen. Barabbas ist frei, Jesus von Nazareth soll sterben.«
Ein zufriedenes Raunen ging durch die Menge. Pilatus drehte sich um und ließ sich die Peitsche reichen. Ohne jede Vorwarnung schwang er sie durch die Luft und ließ sie auf Jesu nacktem Rücken niederschnellen. Der Schlag kam so überraschend und war so heftig, dass Jesus stürzte und der Länge nach in den Staub fiel. Als er wieder aufstehen wollte, traf ihn ein zweiter Schlag. Vor Schmerz schrie er laut auf, vor Schmerz und Überraschung. Was ihn überraschte, war jedoch weniger, dass er ausgepeitscht wurde, sondern dass er dabei Schmerzen empfand. Ich spürte es ganz genau. Als das Blut aus lauter Wunden in seinen Schultern spritzte, tauchte er in eine Welt der kruden Körperlichkeit ein, die ihm völlig neu war.
Der dritte Hieb traf ihn, dann der vierte. Die Menge zählte laut mit: »Drei, vier.« Zwischen den Schlägen hörte ich Jesus stöhnen: »Nein, bitte …«
Er kauerte auf Händen und Knien. »Fünf.« Beim fünften Hieb sackte er zusammen. Pilatus hielt kurz inne, um sich den Arm zu reiben. Es sah ganz so aus, als sollte noch ein sechster Schlag kommen, aber als die Menge »Sechs« rief, warf Pilatus die Peitsche einem Soldaten zu und wandte sich angewidert ans Volk. » Meine Strafe hat euer König erhalten. Meine Soldaten werden eure an ihm vollziehen. Genießt das Passahfest.«
Er drehte sich um und ging, gefolgt von seiner Eskorte. Jesus kam wankend auf die Füße, sein Rücken triefte vor Blut, sein Gesicht war von Tränen überströmt. Soldaten packten ihn und führten ihn durch die johlende Menge ab. »König der Juden. König der Juden.«
»Jetzt kannst du nur noch dich selber retten, Prophet aus Nazareth«, rief jemand.
»Ich hab Zahnschmerzen. Heile mich, Wundermann!«, rief ein anderer.
Dann eine
Weitere Kostenlose Bücher