Mein Name war Judas
hasserfüllte Stimme: »Tempelschänder! Du verdienst den Tod.«
Jesus verschwand in der Menge. Als ich ihn wieder erblickte, wurde er von zwanzig oder mehr Soldaten durch die Straße getrieben. Neben ihm ging ein stämmiger Mann, der ein Holzkreuz trug. Die Soldaten machten sich einen Spaß daraus, Jesus zu quälen. Sie hatten einen Kranz aus Rosenstielen geflochten und ihn wie eine Krone so fest auf seinen Kopf gedrückt, dass seine Stirn und Schläfen bluteten. In diese »Krone« hatten sie einen Zettel gesteckt, den ich nicht lesen konnte. Später erfuhr ich, dass darauf geschrieben stand: »Jesus von Nazareth, König der Juden«.
Dann verlor ich ihn wieder aus den Augen. Viele Menschen waren in den Straßen unterwegs, und viele, die jetzt erst hörten, dass eine Kreuzigung stattfinden sollte, schlossen sich dem Zug zur Hinrichtungsstätte an.
Ich war verzweifelt und wollte mir die Kreuzigung nicht ansehen, aber ich musste es tun. Einmal verließ mich jedoch der Mut, ich drückte mich in eine enge Seitenstraße und ließ die Menge vorüberziehen. Ich hockte mich in den Staub und versuchte zu beten, obwohl ich wusste, dass Gott mich nicht erhören würde. Ich sprach das Gebet, das Jesus uns gelehrt hatte, und empfand es als tröstlich. Doch mit dem Trost kamen die Tränen.
Mein Schmerz war nicht wichtig, aber die Vorstellungskraft des Menschen ist mächtig und gnadenlos, und während Jesus den Schmerz an Händen und Füßen spürte, spürte ich ihn in meinen Gedanken, in der Seele – und zwar so stark, dass es mir noch heute vorkommt, als sei auch ich an jenem Tag gekreuzigt worden.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort hockte – ein weinender junger Mann, der vor sich hin murmelte, sodass die schmutzigen Kinder in der Straße zu spielen aufhörten und ihn anstarrten, genau wie die Frauen, die auf Balkonen standen und Fußmatten ausschüttelten oder Wäsche aufhängten.
Als ich mich wieder in Bewegung setzte, reihte ich mich unter den Letzten ein, die dem Kreuzigungszug folgten. Wir verließen die Stadt durch das Damaskustor gegenüber dem Ölberg, bogen in eine breite Landstraße ein und dann in eine kleinere, die auf einen Hügel führte, die Hinrichtungsstätte Golgatha, den heutigen Kalvarienberg. Auf dem Gipfel standen drei Kreuze, die bereits ihre geschundenen Opfer trugen. Die Zuschauer standen in der sengenden Sonne, unterhielten sich miteinander, manche ernst und bedrückt, andere entspannt oder gar vergnügt. Händler boten Wasser und Obstsäfte feil, andere verkauften Zimt- oder Honiggebäck. Die Hinrichtungen sollten im Volk Angst und Schrecken verbreiten und es somit gefügig machen. Im Großen und Ganzen erfüllten sie diesen Zweck auch. Doch die wenigsten hier schienen es für möglich zu halten, dass römische Nägel dereinst ihre eigenen Hände und Füße durchbohren würden. Heute frage ich mich, wie viele der damals Anwesenden wohl inzwischen die jüngste Belagerung miterlebt haben und auf dieselbe Weise gestorben sind.
Im Näherkommen sah ich, dass Jesus am mittleren Kreuz hing, nackt, gekrümmt, stöhnend. Sein Kopf fiel von einer Seite auf die andere. Er hielt die Augen geschlossen, seine Tränen vermischten sich mit seinem Blut. Er war noch am Leben und litt bei vollem Bewusstsein unsägliche Qualen. Nur einmal wagte ich es, einen kurzen Blick auf den mächtigen Nagel zu werfen, der ihm durch die übereinandergelegten Füße getrieben worden war. Ich ertrug diesen Anblick nicht.
Ich war wütend, enttäuscht und verzweifelt. Warum hatte er sich das angetan? Warum hatten wir, seine Freunde, es zugelassen? Am wütendsten war ich auf mich selbst, denn ich hatte es kommen sehen und war zu schwach und unentschlossen gewesen, um ihn davon abzubringen. Ich hatte ihn nicht vor sich selbst retten können oder, auch so kann man es sehen, vor dem allmächtigen Peiniger, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, dessen Sohn zu sein er sich eingebildet hatte.
Ich suchte in der Menge nach den Gefährten der letzten Jahre. Von den Jüngern war nur Petrus da. Mit versteinerter Miene starrte er auf das Kreuz, als gäbe es ihm ein Rätsel auf, das zu lösen er wild entschlossen war. Die Schwestern Maria und Martha standen in seiner Nähe. Maria brach gerade in Heulen und Wehklagen aus, warf den Kopf in den Nacken, zerrte an ihren Kleidern und schlug sich ins Gesicht. Martha weinte auch, versuchte aber, die Schwester zu beruhigen. Maria Magdalena war ebenfalls da. Sie weinte nicht, und ihre Miene
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