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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Mühling
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erkannte ich den Abdruck einer Bärentatze. Er war beängstigend
groß und beängstigend frisch. »Ein paar Stunden alt«, meinte Ljonja. Grinsend
sah er mich an. »Vertrau auf deine Nase. Bären riecht man, bevor man sie sieht.
Nach Essig riechen sie. Nach Essig und Pfeffer.«
    Als wir weitergingen, roch die gesamte Taiga nach Essig und Pfeffer.
Ich war plötzlich froh über das Automatikgewehr, das Ljonja über der Schulter
trug.
    Abends, kurz vor Sonnenuntergang, kämpften wir uns durch eine
quälend lange Unterholzstrecke. Als sich die Bäume endlich lichteten und das
Ufer vor uns auftauchte, hielt Ljonja mich plötzlich stumm am Arm fest. Er
deutete auf den Fluss. Ich sah eine Art Staudamm, der sich vom einen Ufer zum
anderen zog, zusammengesetzt aus rohen Baumstämmen und eindeutig von
Menschenhand gemacht. Eine Fischreuse, dachte ich – es muss eine Fischreuse
sein.
    Dann erst bemerkte ich die Frau. In einem dunklen Kleid kniete sie
auf den Holzbalken, etwa in der Flussmitte, sie wandte uns den Rücken zu. Mit
einem Beil bearbeitete sie ihre Fischreuse. Das Tosen des Flusses war so laut,
dass sie uns nicht bemerkte. Ein paar Minuten standen wir reglos am Ufer und
sahen ihr zu, bis sie sich plötzlich aufrichtete und über die Holzbalken in
unsere Richtung balancierte.
    Als sie uns bemerkte, lächelte sie. Agafja Lykowa wirkte kein bisschen
überrascht.

Zu Fuß ins Paradies
    Wenn ich heute an Agafja zurückdenke, höre ich ihre
Stimme, bevor ich ihr Gesicht sehe. Sie spricht, aber ich höre keine Worte, nur
eine unverkennbare Melodie. Sie scheint zu singen. Es klingt wie ein leises,
unfertiges, für keinen Zuhörer gesungenes Lied.
    Fünf Tage und vier Nächte lang hörte ich ihre singende Stimme nahezu
ununterbrochen. Jede ihrer melodischen Variationen prägte sich mir ein, auch
wenn ich nicht immer den Text verstand. Manchmal war ich nicht sicher, ob
Agafja selbst den Text genau kannte. Wenn sie sprach, klang es oft, als treibe
ihr Lied ziellos und zufällig durch Erinnerungsbruchstücke und Bibelverse,
durch Familienerzählungen und Lebensgeschichten von Menschen, die sie gekannt
hatte.
    Als Ljonja und ich am fünften Tag wieder aufbrachen, war mir der
Gesang so vertraut geworden, dass ich mir Agafja nicht mehr schweigend
vorstellen konnte. Bis heute frage ich mich, ob ihr Lied aussetzt, sobald kein
Zuhörer in der Nähe ist, oder ob sie weitersingt – für die Birken, für die
Bären, für sich selbst.
    An den Anfang des Lieds erinnere ich mich nicht mehr. Wahrscheinlich
hatte es keinen. Es tauchte übergangslos aus dem Tosen des Flusses auf, als
Agafja an jenem Abend zum ersten Mal vor mir stand, eine winzige Frau mit einem
riesigen Beil in der Hand.
    »… Ljonja ist gekommen. Er hat jemanden mitgebracht …«
    Sie sah älter und gleichzeitig jünger aus, als ich sie mir
vorgestellt hatte. Ihr Gesicht, gerahmt von zwei übereinander getragenen
Kopftüchern, war wettergegerbt und altersgefurcht, aber Agafja lächelte wie ein
Kind. Sie konnte kaum anderthalb Meter groß sein. Ein bodenlanges Kleid,
zusammengeflickt aus dunklen, groben Wollstoffen, verschleierte ihre Figur,
aber sie war erkennbar nicht sehr kräftig, ihre Schultern mussten schmaler sein
als die Baumstämme, aus denen ihre Fischreuse zusammengesetzt war. Wie diese
winzige Frau das Holz in den Fluss gewuchtet hatte, war schwer vorstellbar.
    »Karpowna!« Ljonja sprach Agafja immer nur mit ihrem Vatersnamen an.
»Einen feinen Gast habe ich dir mitgebracht, Karpowna! Dem kannst du alle deine
Geschichten erzählen!« Er sprach mit ihr, wie man mit sehr alten Menschen
spricht: ein bisschen lauter als nötig, ein bisschen leutseliger als nötig.
    Lange hatte ich überlegt, wie ich Agafja erklären sollte, woher ich
kam. Aber als ich den Namen meines Landes nannte, ging ein wissendes Lächeln
über ihr Gesicht.
    »Deutschland …«, wiederholte sie. Es klang, als suche sie nach einer
Erinnerung. »Da gab es einen König, in Deutschland. Er hatte eine Frau, aber er
wollte eine andere heiraten. Der Papst gab ihm seinen Segen nicht. Das war in
Deutschland.«
    Ich konnte die Geschichte nicht einordnen – sprach sie von Heinrich
VIII., verwechselte sie Deutschland mit England?
    »Wer hat Ihnen das erzählt?«
    »In einem Buch habe ich das gelesen. Ich habe viele Bücher.«
    »Zeig ihm deine Bücher, Karpowna! Was stehen wir hier rum?«
    Während wir den Fluss entlanggingen, sank die Abendsonne hinter die
Berge. Das Tal färbte sich rot, bevor es

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