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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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es aus, als würde es klappen.
Dann geriet das Boot plötzlich seitlich in die Strömung. Ich sah, wie sich
Igors Augen panisch weiteten, während der Bug immer weiter nach rechts
abdriftete. Stöhnend und quietschend drehte sich das Boot auf den Steinen um
die eigene Achse, bis es in umgekehrter Fahrtrichtung wieder Wasser unter den
Kiel bekam und stromabwärts glitt.
    Wie knapp Igor dem Kentern entgangen war, begriff ich erst, als ich
seine zitternden Hände sah. Im gleichen Moment begriff ich, dass es aus war.
Verzweifelt starrte ich den Fluss an. Zum zweiten Mal hatte er mich kurz vor
dem Ziel aus der Bahn geworfen. Ich war nur ein paar Kilometer weiter gekommen
als beim ersten Versuch.
     
    Schweigend schleppten wir unser Gepäck in die Hütte. Erst
als wir gegessen hatten und zusahen, wie die Funken des Lagerfeuers durch die
nachtschwarze Taiga tanzten, fanden wir langsam die Sprache wieder.
    »Wie weit ist es noch?«, fragte ich. »Können wir zu Fuß gehen?«
    Ljonja sah mich skeptisch an. »Zu weit. Du warst noch nie in der
Taiga. Du weißt nicht, wie das ist.«
    Galina nickte. Sie wusste es. »Man kommt kaum voran. Es gibt keine
Wege, man kriecht durchs Unterholz, über die Berge, quer durch den Fluss. Ich
hätte fast aufgegeben beim letzten Mal, obwohl wir damals nur einen halben Tag
laufen mussten. Der Bootsfahrer hat uns viel weiter stromaufwärts abgesetzt.«
    »Von hier aus sind es mindestens zwei Tage«, sagte Ljonja. »Eher
drei.«
    »Unmöglich«, flüsterte Galina.
    Deprimiert ließ ich den Kopf hängen.
    »Jens«, fragte plötzlich Igor, der seit dem Zwischenfall mit dem
Boot kein Wort gesagt hatte. »Warum ist dir diese Geschichte so wichtig?«
    Ich erklärte es ihm. Und während das Lagerfeuer langsam
herunterbrannte, erzählte ich zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen die
komplette Geschichte, vom Anfang bis zum Ende. Schweigend hörten Igor und
Ljonja zu. Zum ersten Mal erzählte ich den beiden nun auch von der gescheiterten
Bootstour mit San Sanytsch und Mischa, die ich bisher verschwiegen hatte, weil
wir damals ohne Genehmigung das Naturschutzgebiet angesteuert hatten.
    »Mischa …« Ljonja schien plötzlich etwas einzufallen. »So ein
bulliger Typ?« Ich nickte. »Grünes Sportboot?« Wieder nickte ich. »Ende Juni
war das?« Ich nickte ein drittes Mal.
    Ljonja grinste. »An dem Tag war ich auch auf dem Fluss unterwegs.
Ihr habt mich überholt. Ich weiß es noch genau – da saß ein Passagier im Boot,
der nicht zu den anderen passte.«
    Verblüfft sah ich ihn an. Erst jetzt fiel mir das Boot wieder ein,
das wir an jenem Tag überholt hatten – ich sah San Sanytsch vor mir, wie er mir
ins Ohr brüllte, dass die drei Männer an Bord die Wächter des
Naturschutzgebiets seien.
    »Wärst du mal mit mir gefahren«, sagte Ljonja. »Damals stand das
Wasser so hoch, ich hätte dich bis vor Agafjas Haustür gebracht.«
    Noch eine gute Stunde saßen wir am Lagerfeuer und sahen zu, wie die
Holzscheite nach und nach verglühten. Das Gespräch schweifte ab, es sprang von
Heimat zu Heimat: Galina und Olga erzählten von Krasnojarsk, Igor und Ljonja
von der Taiga, ich von Deutschland. Ab und zu tauschten Ljonja und ich kurze
Blicke aus – noch immer staunten wir über den merkwürdigen Zufall, der uns an
jenem Junitag auf dem Fluss zusammengeführt hatte, ohne dass wir voneinander
gewusst hatten.
    Als das letzte Holzscheit in sich zusammenfiel, sah Ljonja mir in
die Augen. »Hör zu, Jens«, sagte er. »Der Weg durch die Taiga ist schwierig,
aber er ist nicht tödlich. Wenn es dir so wichtig ist, lass es uns versuchen.«
    Am nächsten Morgen brachen wir früh auf. Galina und Olga
fuhren mit Igor zurück nach Abasa, ich ging mit Ljonja in die entgegengesetzte
Richtung. Als wir uns verabschiedeten, hatte ich ein schlechtes Gewissen – die
beiden Frauen hatten alles getan, um mich hierherzubringen, und jetzt konnten
sie nicht mitkommen.
    »Denk nicht darüber nach«, sagte Galina. Sie hatte die halbe Nacht
damit verbracht, einen Brief für Agafja zu schreiben, den sie mir mit auf den
Weg gab: vier Seiten, eng beschrieben mit kirchenslawischen Buchstaben.
    Ljonja und ich sahen dem Boot hinterher. Als es hinter einer
Flussbiegung verschwand, war nur noch das Motorengeräusch zu hören. Es wurde
leiser und leiser, bevor der Wald es verschluckte.
    Wir gingen den ganzen Tag. Nach der ersten halben Stunde nahm ich
kaum noch wahr, was mich umgab, mein Blickfeld verengte sich auf meine
Gummistiefel und das
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