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Mein russisches Abenteuer

Mein russisches Abenteuer

Titel: Mein russisches Abenteuer
Autoren: J Mühling
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unmittelbar vor ihnen liegende Stück Unterholz. Wir
kletterten mehr, als dass wir gingen, nur selten berührten meine Füße den
Waldboden, der irgendwo tief unter mir liegen musste, überlagert von
chaotischen Schichten aus moderndem Holz. Aus dem toten Untergrund krochen
frische Triebe und strebten ans Licht, vorbei an sterbenden Bäumen, die in den
Armen ihrer lebenden Nachbarn lagen – der ganze Wald war in kannibalistischer
Bewegung, er begrub seine Toten und nährte sich von ihrem Humus, er lebte, weil
er starb.
    Als wir nach den ersten drei Stunden aus dem Dickicht zurück ans
Flussufer gelangten, deutete Ljonja wortlos stromabwärts. Nicht weit entfernt
sah ich ein Holzhaus zwischen den Bäumen stehen. Es dauerte einen Moment, bis
ich begriff, dass es das Haus war, in dem wir übernachtet hatten. Wir konnten
kaum einen Kilometer zurückgelegt haben.
    Wann immer es ging, liefen wir am Flussufer entlang, dankbar, einen
halben Kilometer oder einen ganzen auf festen Kiesbetten zurücklegen zu können,
bevor uns steile Felswände den Weg abschnitten, oder Sümpfe, oder meterhoch
aufgestapelte Barrieren aus Treibholz, die uns zwangen, wieder in den Wald
auszuweichen. Ein paar Mal gerieten wir in Sackgassen, die uns zwangen, quer
durch den Abakan zu waten, um am anderen Ufer weiterzulaufen. Die
Flussquerungen waren Nervenproben. An manchen Stellen ging uns das eiskalte
Wasser bis zur Hüfte. Die Ufer wirkten unendlich weit entfernt, der Rucksack
brachte mich aus dem Gleichgewicht, die Strömung riss wütend an meinen Beinen.
Das Wissen, dass mich der Fluss beim kleinsten Fehltritt weit stromabwärts
reißen würde, war lähmend.
    Am frühen Abend tauchte vor uns eine Ansammlung verfallener
Holzhütten auf. Es war die alte Geologensiedlung, die seit fast zwei
Jahrzehnten keine Bewohner mehr hatte. Von den meisten Häusern waren nur noch
Teile der Wände übrig, der Rest war mit dem Waldboden verwachsen. Ljonja
steuerte auf ein winziges Haus zu, das er und seine Waldschutzkollegen vor ein
paar Jahren notdürftig ausgebessert hatten, sie benutzten es als Jagdhütte.
Drinnen stand ein kleiner, gusseiserner Ofen. Wir sammelten Feuerholz, dann zogen
wir unsere durchnässten Sachen aus und hängten sie über Nacht zum Trocknen auf.
    Kurz vor Sonnenuntergang packte Ljonja eine Angel aus und lief zum
Fluss. Kaum eine Viertelstunde später kam er mit einem dicken Bündel Äschen
zurück. Wir nahmen sie aus, kratzten die Schuppen ab und brieten sie über dem
Lagerfeuer. Sie schmeckten himmlisch. Als ich es Ljonja sagte, sah ich seine
Goldzähne in der Dunkelheit leuchten. Er lächelte.
    »Die besten Fische gibt es ein Stück stromaufwärts«, sagte er. »Da,
wo Agafja wohnt. Sie ist nicht dumm, deine Agafja, sie weiß, wo es sich leben
lässt.«
    »Kennst du sie gut?«
    Ljonja nickte vage. »Besser als die meisten, schätze ich.
Kennengelernt habe ich sie hier, als ich in der Geologensiedlung gearbeitet
habe – ich war Bohrmeister. Seit ich mich um den Wald kümmere, besuche ich sie
einmal im Jahr, nach der Schneeschmelze. Um nachzusehen, ob sie noch lebt.«
    Nachdenklich stocherte Ljonja mit einem Zweig in der Glut. »Du
kannst froh sein, dass du nicht mit diesen beiden Idioten bei ihr aufgetaucht
bist. Agafja hätte kein Wort mit euch gesprochen. Sie sieht sich die Menschen
sehr genau an, die an ihre Hütte klopfen.«
    »Meinst du, sie wird mit mir sprechen?«
    Er lachte. »Mach dir keine Sorgen! Sie wird gar nicht mehr aufhören
zu sprechen. Du wirst von morgens bis abends in ihrer Hütte sitzen, während ich
angeln gehe – ich kenne alle ihre Geschichten auswendig.«
     
    Am nächsten Morgen lag Nebel über dem Fluss, rotgefärbt
von der aufgehenden Sonne. Endlose Bergketten umgaben uns, auf manchen Gipfeln
lag noch Schnee. Ich spürte, wie sich die Haare an meinen Armen sträubten – die
Unendlichkeit der Taiga hatte etwas Furchteinflößendes. Es kam mir vor, als
erwidere der Wald meinen Blick mit kalter Gleichgültigkeit. Ob ich lebte oder
nicht, spielte keine Rolle.
    Wieder wanderten wir den ganzen Tag. Wir querten Sümpfe und Berge,
krochen durchs Unterholz, wateten durch den Abakan. An einer Flussbiegung
brauchten wir fast eine Stunde, um Meter für Meter durch ein Treibholzfeld zu
kriechen. Auf allen Vieren balancierten wir über entwurzelte, bleichgescheuerte
Baumstämme, ineinander verkeilt wie das Mikadospiel eines Riesen.
    Gegen Mittag deutete Ljonja auf einen Fleck im Ufersand. Als ich
genauer hinsah,
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