Mein Sanfter Zwilling
Grund rief ich als Erstes meinen Vater an. Lange Zeit sagte er nichts, ich hörte ihn nicht mal mehr atmen, bis er irgendwann einen tierhaften Laut von sich gab. Ich hörte ihn weinen und fragte mich, ob ich ihn je so hatte weinen hören. Er weinte so ungehemmt, so laut, so ungezügelt, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde vergaß, dass es sich um meinen Vater handelte, um den Mann, der diesem Jungen erst die Mutter genommen und dann ein anderes Leben aufgezwungen hatte, ein Leben an seiner und meiner Seite. Ich sagte nichts und versuchte auch nicht, ihn zu trösten. Bevor ich auflegte, sagte ich, ich würde in vier Tagen nach Hamburg kommen, mit Ivos Asche im Gepäck, und er solle bis dahin alles organisieren, alle benachrichtigen, auch Gesi in Newark.
Und als ich das aussprach, meinte ich diese Sätze als die Strafe für alles, was er getan hatte, aber nachdem ich aufgelegt hatte, wusste ich, dass Ivo keine weitere Schuldzuweisung gewollt hatte, und ich wusste, dass ich ihm die Wahrheit erzählen würde, wenn ich ihn wiedersah, auch wenn die Wahrheit tötete.
Bei Lados Bestattung versammelten sich Hunderte von Menschen im Haus mit dem Garten und dem Holzstumpf. Sein Sarg war in der Mitte des Zimmers aufgebahrt, in dem ich so oft gegessen, getrunken und gelacht hatte. Auf Stühlen davor saßen schwarz gekleidete Frauen, die Klageweiber. Salome in der Mitte wippte vor und zurück, mit starrem Gesicht und bis aufs Blut zerkauten Lippen. Männer standen am Eingang, der in Schwarz gekleidete Buba, an die Wand gelehnt, starrte auf den offenen Sarg, in dem sein Vater lag. Vater. Als wäre nichts passiert, friedlich und wiederhergerichtet, damit die anderen ihn beweinen konnten. Damit man den Schrecken des Augenblicks, als sich sein Wagen überschlug, nicht mehr erkannte. Damit man nicht sehen musste, was er in seiner letzten Sekunde sah.
Ich beobachtete, wie Menschen in dem Raum einen Kreis um den Sarg bildeten, schluchzend, flüsternd, aufstöhnend und Angehörige umarmend. Ich erblickte das Foto, das man neben seinem Sarg aufgestellt hatte. Ivos Bild. Ein Bild, das ich noch nie gesehen hatte.
Ivo in Tiflis. In einem der Wintermonate, bevor er nach Hamburg gekommen war, um mich zu holen, um mich wieder zu erinnern, und ich musste lächeln. Ich lächelte, weil er so schön war, weil er auf dem Bild so glücklich schien, unzählige Dinge versprechend, unzählige Geheimnisse aufdeckend, unzählige Menschen glücklich machend. Ich war einer von ihnen. Ich sah ihn an.
In jenen Tagen habe ich keine einzige Träne geweint. Ich war stumm. Ich war da. Ich versuchte, Salome beizustehen, die keine Stunde schlief und wie ein treuer Wächter an Lados Sarg ausharrte. Ich versuchte, Buba in den Arm zu nehmen, sein Aufbegehren, seine Wut, seine Verzweiflung zu zügeln. In den Momenten, in denen er anfing zu brüllen oder mit dem Kopf gegen die Wand hämmerte. Ich versuchte, da zu sein.
Ich weiß nicht, woher sie kam, meine leblose Ausdauer. Meine unmenschliche Standhaftigkeit. Meine Tüchtigkeit und meine Wachsamkeit. Ich schlief nicht, ich aß nicht, ich trank nicht, und trotzdem fiel ich nicht um.
Ich schaffte es. Ich begegnete den Tagen, die kamen, mit solch einer emotionslosen Klarheit, dass ich mich manchmal fragte, ob ich überhaupt noch lebte, oder welche wundersame Kraft man entwickelte, wenn man dem Tod so nahekommt.
Ich organisierte das Buffet für den Leichenschmaus, ich organisierte den Grabstein für Lado, ich brachte Ivos zerstörten Laptop in die Reparatur und ließ die Dateien retten, die man noch retten konnte. Ich buchte einen Flug für mich. Ich telefonierte mit Frank und gab Anweisungen für Ivos Bestattung. Ich kümmerte mich um Ivos Hinterlassenschaft.
Vier Tage nach Lados Beerdigung flog ich zurück.
24.
Die Abschiednahme sollte bei Tulja stattfinden. Die einen wollten eine Grabstätte auf dem Friedhof in Niendorf, die anderen eine Grabstätte neben der seiner Mutter in Hamburg. Alle wollten einen Anteil von Ivo. Ich hatte beschlossen, seine Asche ins Meer zu streuen. Ich hielt seine Urne fest und ließ keinen an sie heran.
Ich ließ keinen Trost zu, keine Berührung, kein Mitleid. Ivos Schmerz war mir heilig, der Schmerz, den er mir hinterließ, war das Einzige, was nur mir allein gehörte, er war nicht teilbar. Das einzige Mal, dass ich weinte, war der Tag, an dem ich meinen Sohn wiedersah. Ich öffnete die Tür, und Theo rannte tränenüberströmt auf mich zu. Ich nahm ihn in die Arme und
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