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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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mir verziehen hast.
    Ich sehe dich an, und ich empfinde den Rausch der Nähe, ich tanze diesen Rausch am Grabe der Einsamkeit, denn nichts anderes ist die Nähe für mich als ein Tanz auf dem Grab der Einsamkeit, eine Verleugnung der Einsamkeit, ein Sieg aller heidnischen, elementaren, dionysischen Gier. Und ich muss lächeln.
    Du hast es geschafft, Ivo.
    Du hast das Ende in einen Anfang verwandelt.
    Meine Liebe zu dir gleicht einem kostbaren Wein, den ich gekostet habe und den ich immer wieder trinken will, den ich aber nicht wiederfinde, weil er vielleicht ausgetrunken ist. Meine Liebe zu dir gleicht einem biblischen Bild von Schuld und Vergebung, die nicht eintreten. Meine Liebe zu dir gleicht nur dir.
    Meine Haare sind ab, der Wind trägt jedes einzelne Haar fort. Ich bin fast kahl, sie sind fast weg, aber ich sitze da, und ich nehme den Wind auf, der meinen Kopf peitscht.
    Hast du darüber nachgedacht, dass zwischen dem Leben und dem Lieben nur ein einziges »i« steht?
    Das Meer ist dunkel. Die Sonne ist verschwunden, hinter einem Vorhang aus Wolken. Ich habe einen kahlen Kopf, mit dem ich deine Gedanken direkt aufnehmen kann.
    Dein Tod schneidet mich entzwei. Aber er gibt mir ein neues Leben. Ein Leben ohne Richtig, ohne Falsch, ohne Aber und Eigentlich.
    Ich begegne dir kahl, ich begegne dir nackt. Ich bin hier, Ivo, am Meer und bin jetzt jemand, auch ohne dich. Ich bin ich, Ivo, ohne den Nachmittag, ohne deine Liebe, ohne meine Familie, die nie eine war, ohne alles, was davor oder danach lag und liegt.
    Ich bin sanft, ich bin weich wie Wolle, und mein Inneres ist seidig glatt, ganz als wäre ich ein Baby, ein Fötus, geborgen, erwünscht und unberührt von der Welt.
    Du hast mir so oft gesagt, ich hätte vergessen, wer ich sei, und vielleicht stimmt es sogar. Und vielleicht habe ich es auch nie gewusst. Bis jetzt. Bis hier. Und vielleicht habe ich es erst erkannt, als ich aufhörte, diese Sanftheit in mir zu bekämpfen, vielleicht erst, als ich mich an ihr satt gegessen hatte. Aber ich weiß, dass ich nicht du bin, nicht mehr.
    Mein Kopf ist jetzt nackt, und ich trotze dem Wind.
    Und genauso wenig wie das Alleinsein, die Stille, die Fragen, die nach all dem kommen werden, die sich vielleicht in dem Wort Zukunft zusammenfassen lassen, macht mir diese Erkenntnis Angst. Ich werde weinen müssen. Alles Unverdaute werde ich aus mir hervorpressen müssen, und keiner wird meine Stirn dabei halten, auch das ist mir bewusst. Aber was macht das schon?
    Ich sehe dein Gesicht an. Du bist schön. Nach wie vor bist du wunderschön, und ich muss lächeln. Ich sehe dein Gesicht an und denke, dass ich dir dankbar bin, für diese sanfte Nähe und diese grausame Fremdheit. Dass ich die Nähe – auch wenn ich dieses Gefühl niemals mehr mit jemandem teilen kann und es damit irgendwann zum Sterben verurteilt ist – loslasse.
    Ich sehe dich an.

Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert.
    1. Auflage 2011
    © Frankfurter Verlagsanstalt GmbH,
    Frankfurt am Main 2011
    Alle Rechte vorbehalten
    Herstellung und Umschlagsgestaltung: Laura J Gerlach
    Umschlagsmotiv: Zeichnung von Julia Bührle-Nowikowa
    Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Rachel Gratzfeld, Zürich
    Satz und eBook: psb, Berlin
    ISBN: 978-3-627-02175-7
    www.frankfurter-verlagsanstalt.de

Über die Autorin

    © Yves Noir
    Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tiflis, ist preisgekrönte Theaterautorin und -regisseurin (mit bislang 14 Uraufführungen, u.a. im Thalia-Theater, Kampnagel in Hamburg, Heidelberger Stückemarkt, Deutsches Theater Göttingen). 2008 gewann sie für Agonie den Rolf-Mares-Preis in der Kategorie »Außergewöhnliche Inszenierung«. 2010 wurde ihr der Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis verliehen. Ihr Romandebüt Juja erschien im Frühjahr 2010 und war für die Longlist des Deutschen Buchpreises, die Shortlist des ZDF-aspekte-Literaturpreises und die Hotlist der unabhängigen Verlage nominiert. Nino Haratischwili lebt heute in Hamburg.

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