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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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etwas aus mir herausquetschen, aber auch das half nichts. Meine Finger waren blutig gekaut, und ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Ich machte die Zigaretten direkt am Boden aus, direkt vor meinen Füßen. Ich saß in einem Berg von Asche.
    Wie hatte ich so blind sein können, die Kinder zu übersehen?
    Und woher, woher hatte er das alles wissen können? Ich hatte Ivo nie von jener Nacht erzählt. Ich hatte ihm nie etwas darüber gesagt, dass ich seiner Mutter nachgelaufen war, weil ich damals bereits wusste, dass ich etwas Endgültiges getan hatte, weil ich damals bereits verstand, dass ich etwas Unwiederbringliches in Gang gesetzt hatte, indem ich Ivo einen Feigling zieh, wenn er seinem Vater nicht alles erzählte von uns. Auch wenn ich es mir nicht vorstellen konnte, dass Ivo mich verriet, so wie ich seine Mutter verraten hatte, trotzdem wusste ich, dass das bereits etwas Unverzeihbarem gleichkam.
    Ich hatte Ivo niemals erzählt, dass ich in meiner Panik auch den Verrat an Emma meiner Mutter offenbart hatte. Ich hatte Ivo niemals erklärt, warum ich ihn dazu gedrängt hatte, diese giftigen Worte auszusprechen.
    Vielleicht hatte er es erraten, vielleicht war es Gesi, die irgendwann mit dem Schweigen gebrochen hatte, vielleicht war es einfach ein Zufall und das Zusammensetzen von Verschiedenem zu einem Ganzen, was Ivo dazu veranlasst hatte zurückzukommen, was ihn dazu veranlasst hatte, mich hierherzubringen. Vor mir eine fremde Geschichte zu entblättern, die mir meine eigene deutlich machen würde, die mich noch einmal zurückkatapultieren und alles wieder aufleben lassen würde, was wir all die Jahre so krampfhaft versucht hatten zu vergessen.
    Aber nicht mal in jener Nacht, nicht mal in meiner Erinnerungsflut, in meinem Vernichtungsdrang erkannte ich das, was er mir zu zeigen versuchte, was er sich für mich erhoffte, indem er mich zum Erinnern zwang.
    Am nächsten Morgen hat er sie und den Hund erschossen. Mit dem Jagdgewehr aus dem Schrank, an den wir niemals, nie, nie ran durften; der fest verschlossen war.
    An dem Abend, als Emma mich nach Hause gefahren hat, schnappte er sich Ivo und machte mit ihm einen Spaziergang an der Elbe. Er fragte seinen Sohn aus, und sein Sohn gab ihm die Antworten, sagte ihm alles, was er wissen musste, um am nächsten Morgen seine Frau zu erschießen. Er hatte auch versucht, sich umzubringen, jedoch nicht genug Mut dafür aufgebracht, und hatte anschließend die Polizei gerufen. Als Ivo nach Hause kam, wimmelte es von Blaulichtautos im Garten und auf der Straße. Menschen glotzten auf den abgedeckten Körper, der in den Krankenwagen geschoben wurde, Menschen glotzten auf den Mann, der in Handschellen abgeführt wurde, und Menschen glotzten auf den kleinen Jungen, der verstört dastand und dem das alles buchstäblich die Sprache raubte.
    Auf dem Boden sitzend, betrunken, erstickt in meinem Elend, in Selbstmitleid ertrinkend, fragte ich mich, warum ich es nie geschafft hatte, uns zu vergeben. Warum ich ihn nie um Verzeihung gebeten hatte, warum ich in dieser verdammten, klebrigen Schuld steckengeblieben war. Warum um Gottes willen hatte ich ihm nie gesagt, dass ich mein Leben dafür hingegeben hätte, um diese Worte, die Worte, die seine Mutter das Leben kosteten, ungeschehen zu machen, dass ich um mein Leben gerannt war, um sie aufzuhalten, dass ich im Nachhinein auch bereit gewesen wäre, seinen Hass als Antwort anzunehmen, bloß damit sie weiterlebte.
    Und in dem Moment, als das Radio eine verrauchte Stimme in den Äther schickte, wurde mir klar, dass ich bereit gewesen wäre, ihn gehen zu lassen, ihn von mir freizusprechen, von meiner und seiner Schuld. Dass ich es ausgehalten hätte – mein Herz, mein Körper, meine ungeschriebene Zukunft hätte ich ausgehalten, damit seine Mutter lebte und er ein anderes Leben hätte als das, was er durch meine Liebe erhielt. Zum ersten Mal ließ ich den Gedanken zu, dass er mich vielleicht nie geliebt hätte, wenn ich an jenem Nachmittag nicht dort geblieben und einfach meinem Vater nach Hause gefolgt wäre. Und als ich den Gedanken annahm, ihn hinunterschluckte wie einen unzerkauten Bissen, fiel ich in mich hinein, wie eine Puppe sackte ich ein.

23.
    Als Salome Sturm klingelte, hatte ich fast vier Stunden auf dem Boden gesessen und fast die ganze Flasche Wodka geleert.
    Ich war nüchtern. Ich war trotz der Unmengen Alkohol klar. So klar, dass es schon fast wehtat.
    – Was ist mit dir los?
    Salome setzte sich an den Tisch und sah

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