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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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dass etwas nicht stimmte. Sie lächelte nicht, wie sie es sonst bei Leuten tat, sie bat sie nicht herein und sie gab ihr auch nicht die Hand. Irgendwann, als sie ihren Blick von der Frau mit der Sonnenbrille gelöst hatte, kniete sie sich zu mir nieder und nahm mich in die Arme.
    – O Gott, Stella. Mein Mädchen. O Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Was ist passiert? Was ist mit …
    – Es tut mir leid. Ich konnte sie nicht eher bringen, sagte Emma leise.
    – Was ist mit deiner Lippe passiert? O mein Gott!
    Gesi schien durchzudrehen, und obwohl ich die ganze Zeit darauf wartete, dass gleich Vater in der Tür erschien, kam er nicht. Er war nicht da. Und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass das unverzeihlich war, dass er hier zu sein hatte, dass irgendetwas gerade mächtig schiefging.
    – Ich bin hingefallen, sagte ich, bevor Emma etwas antworten konnte.
    – Du siehst aus wie ein Junge!, kicherte Leni schadenfroh, und Gesi befahl ihr, auf ihr Zimmer zu gehen.
    – Hat ihr Vater nichts ausgerichtet?
    – Er hat nur angerufen und gesagt, dass er Stella später nach Hause bringen würde. Na ja, etwas anderes erwartete ich auch nicht von ihm. Jetzt lernen wir uns also kennen.
    – Tut mir leid.
    – Hören Sie auf, sich zu entschuldigen. Das bringt jetzt auch nichts mehr. Gehen Sie einfach. Gehen Sie zu Ihrer Familie zurück.
    Emma ließ meine Hand los und taumelte zurück. Sie starrte weiter auf unseren gekachelten Flur, auf den kleinen Lichtschalter in der Ecke, auf die Socken meiner Mutter, auf ihr hochgestecktes blondes Haar, auf unsere Schulranzen auf der Kommode. Auf das Familienbild der Tissmars.
    Emma drehte sich um und rannte zum Auto. Das Zuknallen der Metalltür, das harte Geräusch des Verschwindens.
    Als sie aufs Gas drückte, drehte ich mich um, entkam den Armen meiner Mutter und rannte ihr nach. Ich rannte und rief ihr nach, ich rief immer wieder ihren Namen. Und ich rannte und rannte, und ich hörte meine Mutter meinen Namen rufen, ich hörte ihre Schritte in der Dunkelheit hinter mir.
    Gehen Sie. Gehen Sie zu Ihrer Familie zurück, hatte meine Mutter zu ihr gesagt, und doch war auch ich ihre Familie, und so konnte sie mich nicht einfach zurücklassen. Denn das wusste ich schon längst: Nichts konnte man zurücklassen, indem man einfach aufs Gas drückte.
    Sie hielt an der Ampel vor der Hauptstraße, um gleich nach rechts abzubiegen, ich kletterte über einen Zaun, der unseren Nachbarn gehörte und der den letzten Vorgarten vor der Hauptstraße markierte, und sprang auf den Bürgersteig. Die Straßenlaternen blendeten mich, und genau in dem Moment, als ich mich erhob und vor ihren Wagen laufen wollte, um sie aufzuhalten, genau in dem Moment, wo die Ampel auf Grün schaltete, genau, als ich auf die Hauptstraße rennen wollte, packte mich meine Mutter am Nacken und zerrte mich zurück. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hatte, mich einzuholen, ohne die Abkürzung über den Zaun genommen zu haben.
    Auch das andere Mädchen war gerannt.
    Das Mädchen starb.
    Ich überlebte.
    Meine Mutter fing mich ab.
    Salome schaffte es nicht. Denn der Krieg war schneller.
    Das Schweigen hatte alles Weitere unter sich begraben. Jahre und Jahrzehnte, Leben und Träume.
    Ich überlebte.
    Mutter nahm mich in die Arme und presste mich so fest an sich, dass mir die Luft wegblieb. Ich schrie die ganze Zeit, ich schrie, so laut ich konnte. Ich habe Ivo gesagt, er soll es ihm sagen, ich habe Ivo gesagt, er soll es ihm sagen, ich habe Ivo gesagt, er soll es ihm sagen. Bis irgendwann meine Mutter mir den Mund zuhielt, mich in die Arme nahm, die Straße hochtrug und mich ins Haus brachte.
    Sie legte mich in ihr Bett, zog mich aus, deckte mich zu, und all die Zeit hörte sie nicht auf zu weinen. Aber sie stellte keine Fragen, sie verhinderte nichts. Mein Vater verhinderte nichts, meine Mutter verhinderte nichts, ich verhinderte nichts.
    Mutter küsste mich immer wieder und drückte mich an sich. Irgendwann legte sie sich zu mir und umschlang meinen Körper mit ihren Armen.
    Ich stellte die Wodkaflasche auf dem Boden ab und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Das Radio dröhnte weiter, und ich drehte es ein wenig leiser. Ich brauchte die Geräusche, eine Bestätigung dafür, dass ich noch am Leben war, dass es noch eine Gegenwart gab. Ich wollte schluchzen, all diese Bilder aus mir herauspressen, aber es kam kein Geräusch aus meinem Mund, es kam kein Laut. Ich drückte die Hände gegen meinen Körper, als könne ich so

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