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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nino Haratischwili
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kommen, aber ich weiß, dass es spätestens im Herbst so weit sein wird. Er wird es mir eröffnen, dass es nicht mehr geht mit uns. Allerdings habe ich jetzt keine Angst mehr, meinen Sohn zu verlieren. Dem ich versprochen habe, immer nur die Mutter für ihn zu sein, die ich bin, und nicht die, die er sich vielleicht wünscht.
    Ich werde den Franzosen mit dem Dienst-Mercedes besuchen, der Gérard heißt, der sich nach dem Unfall hat beurlauben lassen und mit dem ich ab und zu telefoniere, weil er Schuldgefühle hat und jemanden zum Reden braucht, weil er nicht mehr einfach so in sein altes Leben zurückkehren kann. Ich werde ihm erklären, dass er keine Schuld trägt. Ich werde alles daransetzen, dass er in meiner Reportage keine Rolle spielt.
    Denn die Schuld soll enden. Sie soll ausgelöscht werden. Obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist, will ich es versuchen. Ich will es versuchen, auch weil Ivo es versucht hat.
    So sitze ich hier, ein paar Tage vor meiner Abreise. Ich sitze hier, am Strand in Niendorf, an deinem und meinem Strand, von wo aus wir immer in das kalte Wasser hinausgeschwommen sind, im Sand, der kühl und feucht ist, weil es seit zwei Tagen regnet.
    Ich sitze hier, wo ich mit dir so oft gesessen habe, ich sitze hier, wo ich dir das erste Mal meinen nackten Körper als Geschenk dargeboten habe, das ich nicht richtig habe einpacken und du nicht richtig hast auspacken können, und sehe auf das Wasser. Unsere Bucht, Ivo. Unser Ort, wohin sich keiner verirrt, weil es zu kalt ist, weil hier zu viele Boote ankern, der Sand zu frostig ist. Ich sitze hier und sehe aufs Meer, und ich bin aus irgendeinem merkwürdigen Grund, den ich mir nicht erklären kann, nicht traurig, nicht verletzt, nicht einsam, nicht tot.
    Ich sehe dein Gesicht an: so blass, so friedlich, und ich verspüre immer noch das alte, vertraute Gefühl und misstraue ihm, noch während ich es empfinde. Ich frage mich, wie es sein kann, dass ich nichts anderes spüre als diese Nähe. Auch jetzt. Wie es denn sein kann? Ich werde dieses Gefühl niemandem erklären können, noch schlimmer: Ich darf es nicht empfinden angesichts der Geschehnisse, angesichts der Zukunft, meiner Zukunft. Aber im Moment ist es so, und langsam nehme ich sie hin, diese Empfindung, die alles zu überdauern scheint. Sogar diesen Augenblick, in dem ich dein Gesicht sehe und mich frage, wie es passieren konnte, dass ich nun hier sitze.
    Ich habe das Blatt Papier in der Hand, ein Blatt Papier, das uns abbildet. Vor dem Nachmittag, vor dem Moment, bevor wir das geworden sind, was wir geworden sind. Ich sehe dich an und denke, dass ich dir dankbar bin – für alles, was du mir hast geben und nicht geben können.
    Dass ich hier sitze und dich ansehe, während das Meer mein Haar streichelt, das du so gern geflochten hast und das ich gleich abschneiden werde, weil ich doch irgendeine Art von Abschied nehmen muss. Nicht von dir, nein, von mir. Von dem, was ich war und was ich nicht mehr sein kann. Und nun denke ich auch darüber nach, dass der Wind meine Haare genauso davontragen wird wie deine Asche. Dass wir uns vielleicht dort, an irgendeinem Punkt, den ich nicht sehen und erkennen kann, begegnen. Die Reste von uns oder vielleicht unser Anfang.
    Ich werde zu Ende bringen, was du begonnen hast. Und ich habe aufgehört, nach Erklärungen zu suchen.
    Vielleicht ist die Nähe kein Schmerz, Ivo, wie ich es immer geglaubt habe. Vielleicht ist sie auch kein Wir, sondern ein Du und ein Ich, Brücken bauend, immer scheiternd, immer weiter versuchend. Vielleicht.
    Ich schneide die erste Strähne ab, die zweite. Ich schneide die Spitzen, dann wandert die Schere, die ich aus Tuljas Küche mitgenommen habe, immer höher. Die Haare fallen, und der Wind bläst sie fort, fast bis zum Wasser. Ich sehe den Wind die einzelnen Strähnen davontragen und freue mich. Ja, ich freue mich, dass mir immer weniger bleibt.
    Ich wünsche mir, die Wahrheit wäre die, dass deine schweigsame, traurige Mutter die Liebe meines betrügenden, verantwortungslosen Vaters aufnimmt und sich wünscht, dass sie kein Kompromiss ist, keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung für ihr stilles Leiden; ich wünsche mir, die Wahrheit wäre die, dass sie einfach nur glücklich waren. Zwei glückliche Menschen. Für Augenblicke wenigstens. Und dass wir Kinder nichts mit alldem zu tun hatten. Dass wir nur eine kleine, unausweichliche Baustelle waren, die sie nicht umgehen konnten.
    Ivo, ich weiß, du bist gegangen, weil du

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