Mein skandaloeser Viscount
seine mit Gazestreifen umwickelte Hand, beugte sich über ihn und flüsterte nah an seinem Ohr: „Ich liebe dich, Papa. Und ich werde deinen Enkelkindern viel von dir erzählen, und sie werden dich lieben.“
Der Earl krümmte schwach die Finger um ihre Hand. Sie hob den Kopf, um ihm in sein hohlwangiges aschfahles Gesicht sehen zu können.
Plötzlich schlug er die Augen auf, sein leerer glanzloser Blick schärfte sich und richtete sich klar auf sie.
Victoria lächelte stumm unter Tränen. Es bedurfte keiner Worte. Wichtig war einzig und allein, dass sie ihm noch ein letztes Mal in die Augen schauen durfte. Sei sie nun Camille für ihn oder ein Niemand. Sie wusste, was einst zwischen ihnen gewesen war.
Er blinzelte heftig, seine Stirn glättete sich. „Victoria?“, krächzte er. „Wo warst du so lange?“
Ein bittersüßes Glücksgefühl erfasste sie. Sie hatte nicht zu hoffen gewagt, dass ihr geliebter Vater sie je wieder erkennen würde. Er sprach mit ihr. Mit ihr. Halb schluchzend, halb lachend antwortete sie: „Ich war in Venedig, Papa. Und habe die Familie meines Gemahls besucht.“
„Dein Gemahl?“, flüsterte er tonlos. „Bist du endlich verheiratet?“
„Ja. Mit dem Mann, den du mir erwählt hast. Ich bin verheiratet, wie du es dir gewünscht hast. Und ich bin sehr, sehr glücklich mit ihm.“
Ein Lächeln breitete sich auf seinen schrundigen Lippen aus. „Remington. Du hast Remington genommen.“
Sie drückte seine Hand ein wenig fester. Mit bebenden Lippen erwiderte sie sein Lächeln. „Ja, ich habe ihn genommen.“
„Ist er hier?“, flüsterte er.
„Ja, Papa.“ Victoria drehte sich halb zu Jonathan um, der stumm am Fußende des Bettes stand.
Rasch näherte er sich und beugte sich über den Sterbenden. „Mylord.“
Der Earl schaute zu Jonathan auf und wies mit einem zitternden Finger auf seine Tochter. „Jetzt gehört sie dir. Pass gut auf sie auf.“
Jonathan nickte ernst. „Das tue ich, Mylord“, versprach er feierlich. „Das tue ich. Bis an mein Lebensende. Ich schwöre es.“
„Gut.“ Der Earl nickte matt. Er schloss die Augen und drückte Victorias Hand ein wenig. „Gut. Ich wusste es. Alles ist, wie es sein soll. Alles ist …“ Sein Gesicht verzerrte sich, seine Finger krallten sich um Victorias Hand.
„Papa?“, flüsterte sie und bemühte sich, ihr Entsetzen zu verbergen.
Er schnappte nach Luft, ein Zittern durchlief seinen abgezehrten Körper. Ein letztes Röcheln, ein letztes Aufbäumen, dann lag er still.
Die tiefen Furchen in seinem Greisengesicht glätteten sich. Seine Lippen öffneten sich leicht, seine Finger lösten ihre Umklammerung. Seine große Hand lag nun schwer auf der ihren.
Er war erlöst. Nun war er bei Mama und Victor, sein Leiden war vorüber.
Tränenüberströmt führte Victoria die leblose Hand ihres Vaters an ihre Lippen und küsste sie. „Ich liebe dich, Papa“, flüsterte sie. „Dir verdanke ich, dass ich mein Glück gefunden habe. Sag Mama und Victor, dass ich sie sehr vermisse. Vergiss nicht, ihnen das zu sagen.“
Sie spürte den Druck einer sanften Hand an ihrer Schulter. „Victoria.“ Jonathans weiche Stimme war voller Mitgefühl.
Sie gab die Hand ihres toten Vaters frei, wandte sich um, schlang die Arme um ihren Ehemann, zog ihn zu sich herab und weinte haltlos an seiner breiten Schulter. „Er ist von uns gegangen. Es kam doch sehr plötzlich. Ich glaubte fest daran, dass er noch länger lebt.“
Jonathan barg ihr Gesicht an seiner Brust und streichelte sie zärtlich. „Es tut mir unendlich leid“, raunte er an ihrem Haar. „Ich habe nie einen besseren Mann als ihn gekannt.“
Sie hielten einander lange schweigend in den Armen.
Victoria wusste, dass die Welt einen großen Mann verloren hatte, einen Mann, der ihr Vater und ihr Freund gewesen war. Aber sie wusste auch, dass es Hoffnung und Bedeutung in dieser Welt gab. Dies war nicht das Ende für sie. Nein. Keineswegs.
Dies war ein Neubeginn.
– ENDE –
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