Mein skandaloeser Viscount
erwiderte ihren Blick unverwandt. Sie müsste nur einen Finger krümmen und den Abzug drücken und alles wäre vorüber. Dieser Unhold würde nie wieder einem unschuldigen Menschen etwas antun.
In seinen bernsteinfarbenen Augen glomm ein spöttischer Funke. „Worauf warten Sie? Bin ich in Ihren Augen immer noch ein Mann? Nach allem, was ich verbrochen habe?“
Sie biss die Zähne aufeinander, ihr Zeigefinger glitt wie aus eigenem Zutun zum Abzug. Sie brannte darauf, diesen Widerling zu töten. Er sollte büßen für alles Leid, das er Jonathan und so vielen anderen Menschen und auch ihr zugefügt hatte. Aber sie durchschaute seine Niedertracht. Er wollte sie mit sich in den Höllenschlund reißen.
„Sie sind es nicht einmal wert, Sie zu hassen“, fauchte sie und ließ die Waffe sinken. „Sie tun mir leid. Aufrichtig leid. Denn Sie werden niemals die Liebe kennenlernen, die mich mit meinem Gemahl verbindet. Mit meinem Jonathan.“
Sein zynisches Lächeln schwand. „Sie irren. Der Mann, der vor Ihnen steht, war einst ein Kind der Liebe.“ Er senkte das Kinn. „Nun geben Sie uns beiden Frieden. Schießen Sie.“ Er packte zu, drückte den Pistolenlauf gegen seine rechte Schulter und presste Victorias Finger um den Abzug.
Ein scharfer Knall zerschnitt die Morgenstille, ihr Arm wurde gewaltsam nach hinten geschleudert, beißender Pulverdampf trieb ihr die Tränen in die Augen. Schreiend vor Entsetzen taumelte Victoria rückwärts, die Waffe entglitt ihr und landete im Gras.
„Victoria!“, hörte sie Jonathan rufen, gefolgt von dröhnenden Stiefelschritten.
Der marchese wankte, sein weißes Hemd, an der Schulter von Schießpulver geschwärzt, färbte sich rot, der Blutfleck breitete sich in Sekundenschnelle aus und durchtränkte seine Hemdbrust. „Paolo!“ , brüllte er dem heranstürmenden Italiener, seinem Sekundanten, zu. „Wir gehen. Das Duell ist vorüber.“
Er riss sich das Hemd vom Leib, entblößte seinen muskulösen Oberkörper und die klaffende Schusswunde knapp unter der Schulter, aus der dunkles Blut quoll. Mit verzerrtem Gesicht presste er das zusammengeballte Hemd gegen die Wunde und suchte Victorias Blick. „Hass. Liebe. Wo ist der Unterschied? Beides zerfrisst die Seele. Habe ich recht?“
Jonathan stürmte keuchend herbei und stellte sich schützend vor Victoria. „Gütiger Himmel.“ Er fuhr zu ihr herum, hielt sie an den Schultern. In tiefer Sorge betrachtete er sie von oben bis unten. „Bist du …“
„N…nein“, stammelte sie benommen. „Oh, Gott. Ich wollte nicht …“
„Ihre Gemahlin ist ein Meisterschütze“, meinte der marchese gedehnt. „Sollte ich sterben, mögt ihr beide Frieden finden.“ Er machte kehrt und ging auf unsicheren Beinen, gestützt von seinem Sekundanten, zu den Pferden in einiger Entfernung.
Victoria stand wie gelähmt da und starrte ihm in fassungsloser Betroffenheit hinterher. Er hatte kaltblütig ihre Hand geführt und sie gezwungen, auf ihn zu schießen. Warum, in Gottes Namen? Aus Reue? War dieser Scharlatan überhaupt zu so etwas wie Reue fähig?
Erleichtert schloss Jonathan sie in die Arme. „Victoria, ich schwöre dir, meinem Stolz nie wieder mehr Bedeutung beizumessen als unserer Liebe. Das schwöre ich bei meinem Leben. Verzeih mir, Liebste. Guter Gott, Victoria, sage mir bitte, dass du mir verzeihst.“
Sie schmiegte sich kraftlos an ihn und genoss seine Wärme. Nie wieder würde sie zulassen, dass sich irgendetwas zwischen ihre Liebe drängte. Nie wieder. „Ich will fort von Venedig“, wisperte sie. „Ich will nach Hause. Ich will bei meinem Vater sein.“
Jonathan erschrak, jede Sehne, jeder Muskel spannte sich an. Nach langem Schweigen fragte er heiser: „Willst du ohne mich reisen?“
Tränenblind löste sie sich aus seiner Umarmung, legte ihre bebenden Hände an sein Gesicht, zog ihn zu sich herab und küsste ihn innig. „Niemals“, hauchte sie. „Wohin ich auch gehe, du gehst mit mir. Weil du mein Gemahl bist, Jonathan, weil ich deine Ehefrau bin.“
SKANDAL 18
Jede Dame sollte wenigstens ein Gedicht von George Herbert gelesen haben. Seine Poesie offenbart eine wunderschöne, gleichwohl einfache Sicht auf das Leben und vermittelt einer Dame mehr Verständnis in einer Welt, die hohe Erwartungen an sie stellt und sie zugleich in ihren Rechten als Frau beschneidet. Wann immer Sie zweifeln, liebe Leserin, denken Sie an George Herberts weise Worte: „Der beste Spiegel ist ein guter Freund.“
Wie vermeidet man einen
Weitere Kostenlose Bücher