Mein skandaloeser Viscount
sagen. Nachts weine ich mir die Augen darüber aus, wieder einen geliebten Menschen zu Grabe getragen zu haben. Warum verdammen Sie mich zu einem Leben ohne Sie? Warum lassen Sie mich im Ungewissen, was aus Ihnen geworden ist? Bedeutet Ihnen Ihr Stolz so viel mehr als ich Ihnen bedeute? Ich habe doch nur den Wunsch, Sie zu verstehen, nicht Sie zu verurteilen. Tief in meinem Herzen ahnte ich, dass es so kommen würde. Ich wusste in dem Moment, als ich dieser törichten Leidenschaft für Sie erlag, dass Sie mich enttäuschen und mir das Herz aus dem Leib reißen würden. Ich war lediglich der Meinung, ich sei nach all den Verlusten, die ich erleiden musste, besser gerüstet für den Schmerz, den Sie mir zufügen. Aber ich habe mich geirrt. Mein Kummer übersteigt alles, was ich je für möglich gehalten habe. Tun Sie mir wenigstens den Gefallen und schreiben mir ein paar Zeilen, nur um mich wissen zu lassen, dass Ihnen kein Unglück zugestoßen ist. Ich stehe große Ängste um Sie aus und fürchte um Ihr Leben.
In ewiger Treue, verbleibe ich immer die Ihre,
Victoria
Er faltete den Brief wieder zusammen, legte ihn auf den Stapel zu den anderen und schlug den Deckel zu. Mit zusammengekniffenen Augen presste er die Faust an den offenen Mund, Victorias Worte hallten in seiner Seele wider. Er war im Begriff, sie wieder zu enttäuschen. Aber dieses letzte Mal würde er wenigstens nichts von dem verraten, woran er je geglaubt hatte.
Vier Uhr morgens
Victoria lehnte an der verschlossenen Tür des Gästezimmers und schluckte gegen ihre aufsteigenden Tränen an. Jonathan hatte die Nacht nicht bei ihr verbracht. Nicht, um zu schlafen oder sich wenigstens zu verabschieden. In zwei Stunden lag er vielleicht schon sterbend in seinem Blut. Keine Sekunde gab sie sich der törichten Hoffnung hin, er würde dieses Duell überleben.
Sie stieß sich von der Tür ab. Wie konnte etwas so Wunderschönes sich jäh in trostlose Düsternis verwandeln? Auf bloßen Füßen mit wehendem Nachthemd trat sie an den Waschtisch und erschrak beim Anblick ihres Spiegelbildes. Rot geäderte geschwollene Augen blickten ihr aus ihrem totenblassen, von wirrem Haar umwallten Gesicht entgegen.
Sie sah aus wie Victor auf dem Sterbebett. Tapfer bis zum Ende, hatte ihr geliebter Bruder in der Stunde seines Todes geweint, obwohl er fest an Gott geglaubt hatte. Die Angst vor dem Tod hatte die schauerliche Eigenschaft, auch einen scheinbar unerschütterlichen Glauben zu zerrütten.
Hastig steckte Victoria ihre Lockenfülle fest, tauchte die Hände in die Waschschüssel und schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht.
Sie kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Wenn er sich nicht von ihr verabschiedete, wollte sie es tun. Entschlossen tappte sie durch das Zimmer, öffnete die Tür und erstarrte. Im Flur stand Jonathan in Gehrock und Stiefeln.
Der Blick seiner blauen Augen fuhr ihr durch Mark und Bein. Sein Gesicht wirkte verhärmt, als hätte er bereits hundert Duelle um sie gekämpft. Er hielt ihr eine flache Hand entgegen, in der sein silberner Löwenanhänger lag. Schweigend trat er auf sie zu und legte ihr die Kette um den Hals. „Trag sie. Was auch geschieht.“
Er führte ihre Hand an seinen Mund und gab mit geschlossenen Augen einen innigen Kuss auf ihren Handrücken … als wollte er für immer Abschied nehmen.
Victoria sah ihn aus großen Augen an. „Du entscheidest dich für deine Ehre und gegen mich? Gegen uns?“
Er ließ ihre Hand sinken und wich einen Schritt zurück. „Verzeih mir, dich immer wieder zu enttäuschen, Victoria. Aber ich kann nicht über meinen Schatten springen. Ich bin, wie ich bin und immer war. Mein Leben von meinen Gefühlen diktieren zu lassen, hat mir zwar großes Unglück gebracht, aber lieber sterbe ich für meine Überzeugung, als ohne Prinzipien und ohne Ehre weiterzuleben.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und entfernte sich, seine Stiefelschritte waren noch einen Moment zu hören, dann herrschte Stille.
Victoria stand lange auf der Schwelle, den Blick ins Leere gerichtet. In ihr tobte ein wirrer lähmender Gemütsaufruhr. Irgendwann kehrte sie ins Zimmer zurück, sank auf den kühlen Fußboden, wo sie lange, sehr lange sitzen blieb, nicht einmal weinen konnte. Sie hatte keine Tränen mehr.
Sie konnte ihr Dasein bis ans Ende ihrer Tage fristen in dumpfer Trauer um das Entsetzliche, was in den nächsten Stunden geschehen würde. Oder sie konnte die Frau werden, die sie sich immer gewünscht hatte zu sein. Eine
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