Mein Sommer nebenan (German Edition)
ein Politiker unerwartet und ohne Angabe konkreter Gründe zurücktritt. Nach ein paar Wochen hat sich die Aufregung gelegt und es gibt neue Themen, die diese Geschichte ablösen.
Eigentlich hatte ich erwartet, dass Mom erst einmal eine längere Reise unternimmt – schließlich hatte sie schon länger davon gesprochen, auf Virgin Gorda Urlaub machen zu wollen –, doch stattdessen verbringt sie viel Zeit zu Hause, kümmert sich um ihren Garten, wie sie es früher so gern getan hat, bevor sie in die Politik ging und keine Zeit mehr dafür hatte, und kocht für die Garretts, bis Duff sonnengetrocknete Tomaten, Ziegenkäse und Blätterteigteilchen schließlich genauso satt hat wie zuvor Pizza und Cheerios. Allerdings überlässt sie es mir, das Essen rüberzubringen, Wenn sie mich fragt, wie es Mr Garrett geht, schafft sie es kaum, mich anzusehen und senkt den Blick. Und als Jase anbietet, unseren Rasen zu mähen, bittet sie mich, ihm in ihrem Namen für das Angebot zu danken, ihm jedoch auszurichten, »dass wir dafür jemanden kommen lassen«.
Nachdem ich so viele Jahre lang als Gast und Angestellte im B&T verbracht habe, sollte man annehmen, ich hätte den Club vermisst. Immerhin bin ich kein einziges Mal mehr dort gewesen, seit ich mein Kapitänsjäckchen an den Nagel gehängt und mich von Mr Lennox verabschiedet habe. Mom sagt, dass kein anderes Lokal infrage kommt, um ein letztes Mal gemeinsam zu Abend zu essen, bevor Tracy aufs College geht, aber ich verspüre keine nostalgischen Gefühle, als wir die schwere Eichentür zum Restaurant öffnen. Ich bin höchstens ein bisschen überrascht, dass alles noch ganz genau so ist, wie es immer war – als wäre nichts gewesen. Die klassische Musik, die so leise im Hintergrund spielt, dass sie kaum zu hören ist, das laute Lachen von der Bar, das dezente Klirren des Silberbestecks, der Duft nach Zitronenöl, gestärkten Tischdecken und gegrillten Rippchen.
Tracy geht diesmal voraus, was sie bisher nie getan hat. Mom folgt. Wir bekommen unseren Stammkellner, aber er führt uns nicht an unseren gewohnten Tisch unter dem Gemälde mit den harpunierten Walen und ertrinkenden Seeleuten, sondern an einen kleineren Ecktisch.
»Es tut mir sehr leid, Ms Reed«, entschuldigt er sich bei Mom. »Sie sind schon eine Weile nicht mehr hier gewesen, und da haben wir uns erlaubt, Ihren Tisch an Mr Lamont zu vergeben – er kommt jeden Freitag.«
Mom blickt kurz auf ihre Hände hinunter, dann sieht sie ihn an. »Natürlich. Machen Sie sich keine Gedanken. Dieser Platz ist ausgezeichnet. Hier können wir etwas mehr für uns sein.«
Sie setzt sich mit dem Rücken zum Gastraum und schüttelt ihre Serviette auf.
»Wir haben es alle sehr bedauert, als wir gehört haben, dass Sie nicht noch einmal zur Wahl antreten, Senatorin«, fügt der Kellner freundlich hinzu.
»Ah. Nun ja. Zeit, nach vorne zu schauen.« Mom greift nach dem Brotkorb und streicht mit unglaublicher Konzentration Butter auf ein Brötchen. Dann isst sie es, als wäre es ihre Henkersmahlzeit. Tracy sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. In letzter Zeit tauschen wir öfter solche Blicke aus. Unser Haus hat sich in ein stilles Minenfeld verwandelt. Trace kann es gar nicht erwarten, nach Middlebury zu ziehen und ihr Studium zu beginnen, was ich ihr nicht verübeln kann.
»Apropos nach vorne schauen «, nimmt meine Schwester den Faden auf. »Es gibt da eine kleine Änderung, was meine Studienpläne betrifft.«
Mom lässt den letzten Bissen ihres Brötchens sinken. »Bitte nicht«, haucht sie schwach.
Tracy sieht sie nur stumm an, als hätte Mom jedes Recht verloren, sich in ihr Leben einzumischen. Das ist so, seit sie aus Martha’s Vineyard zurückgekehrt ist, und auch jetzt fügt sich Mom und senkt resigniert den Blick.
»Flip wechselt die Uni und zieht auch nach Vermont, um mit mir zusammen sein zu können. Er hat einen tollen Job als Assistent für ein paar Dozenten der Englisch-Abteilung gefunden. Wir nehmen uns gemeinsam eine Wohnung.«
Mom sieht sie mit offenem Mund an. »Als Assistent?«, fragt sie schließlich.
»Du hast richtig gehört, Mom.« Tracy klappt die Speisekarte zu. »Und wir werden zusammen wohnen.«
Auf den ersten Blick sieht es wie eine ihrer üblichen Auseinandersetzungen aus: Tracy rebelliert, Mom hält dagegen. Aber in letzter Zeit verliert Mom diese kleinen Machtkämpfe. Auch diesmal schaut sie auf die Serviette in ihrem Schoß, nippt bedächtig an ihrem Wasser und sagt dann: »Oh. Tja. Das
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