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Mein Vater der Kater

Mein Vater der Kater

Titel: Mein Vater der Kater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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war pitschnaß und platt. Seine Beinchen waren unter ihm eingeknickt, und seine Fühler hingen leblos herab.
    Ich spürte, wie der Kummer in mir aufstieg, wie er auf meine Kehle zielte, aber ich wollte den Stachel des Schmerzes nicht zu spüren bekommen. Deshalb stand ich schnell auf und ging in mein Arbeitszimmer. Der Computer leuchtete noch. Ich klickte ›Datei‹ an und öffnete eine neue Seite. Dann brachte ich den Cursor in ihre Mitte und dachte über einen Titel nach. Mir wollte jedoch keiner einfallen. Deshalb tippte ich schließlich einfach: Ohne Titel, von Henry Slesar.

Mein Vater, der Kater
    M eine Mutter war eine liebreizende, zarte Frau, die von der bretonischen Küste stammte, nur schlecht auf weniger als drei Matratzen schlafen konnte und einmal, so wurde berichtet, in ihrem Garten von einem herabfallenden Blatt verletzt worden war. Mein Großvater, Abkömmling einer alten französischen Adelsfamilie, die die Revolution überlebt hatte, hegte den zarten Körper und Geist seiner Tochter mit jener liebevollen Zuwendung, die man seltenen, nur kurz blühenden Blumen angedeihen läßt. Auf Grund des Gesagten ist leicht vorstellbar, was er von einer Verehelichung hielt. Er lebte in der steten Angst vor einem gewöhnlichen Menschen mit riesigen, ungeschickten Pranken, der möglicherweise eines Tages das Herz meiner Mutter gewann – und am Ende war es diese andauernde Angst, die ihn umbrachte. Seine Sorge war jedoch völlig unnötig gewesen, denn meine Mutter entschied sich für einen Freier, der so bar jeder Brutalität war, wie man es sich von einem Ehemann nur wünschen konnte. Ihre Wahl fiel auf Dauphin, einen bemerkenswerten weißen Kater, einen Streuner, der kurz nach dem Tod meines Großvaters auf unserem Familienbesitz erschien.
    Dauphin war ein ungewöhnlich großer Angorakater, und seine Fähigkeit, ein kultiviertes Französisch, Englisch und Italienisch zu sprechen, genügte, meine Mutter dazu zu bewegen, ihn als Haustier zu adoptieren. Jedoch wurde ihr schon bald klar, daß Dauphin einen höheren Status verdiente, und so avancierte er zu ihrem Freund, Beschützer und Vertrauten. Er sprach nie über seine Herkunft und auch nicht darüber, wo er die klassische Bildung erworben hatte, die ihn zu einem so unterhaltsamen Begleiter machte. Nach zwei Jahren fiel es meiner Mutter, die in gewissem Sinne eine nicht zu dieser Welt gehörende Frau war, leicht, die Differenzen in der Spezies zu übersehen. Im Grunde genommen war sie sogar davon überzeugt, daß es sich bei Dauphin um einen verzauberten Prinzen handelte, und Dauphin seinerseits nahm Rücksicht auf ihre Illusionen und redete ihr diesen Glauben nie aus. Am Ende wurden sie von dem verständnisvollen Priester des Ortes getraut, der in den Ehevertrag mit großem Ernst den Namen Edwarde Dauphin eintrug.
    Ich, Etienne Dauphin, bin beider Sohn.
    Um ehrlich zu sein, bin ich ein gutaussehender Jüngling, in der Feinheit der Züge meiner Mutter nicht unähnlich. Das Erbe meines Vaters wird in meinen großen feinen Augen, meinem schlanken Körper und der Schnelligkeit meiner Bewegungen erkennbar. Beim Tod meiner Mutter war ich vier Jahre alt und blieb in der Obhut meines Vaters und der Schar seiner Diener. Ich hätte mir gar kein schöneres Aufwachsen wünschen können. Alles, was ich an Fähigkeiten und Vorzügen habe, verdanke ich der geduldigen Erziehungsarbeit meines Vaters. Es war mein Vater, der Kater, der mir mit sanften Pfoten den Weg zu den Schatzkanunern der Literatur, Kunst und Musik wies, dessen Schnurrhaare angesichts einer gut zubereiteten Gans, einer vollendet servierten Mahlzeit oder eines richtig gewählten Weins vor Vergnügen knisterten. Wie viele glückliche Stunden haben wir zwei zusammen verbracht! Mein Vater, der Kater, wußte mehr über das Leben und die Geisteswissenschaften als jeder Mensch, der mir in den dreiundzwanzig Jahren meines Daseins begegnet ist.
    Bis zum Alter von achtzehn Jahren war meine Erziehung sein persönliches Anliegen. Dann hatte er jedoch den Wunsch, mich in die Welt vor den Toren unseres Besitzes hinauszuschicken. Er wählte für mich eine Universität in Amerika, denn er empfand eine tiefe Zuneigung zu diesem, wie er es nannte, »großen, rohen Land«. Er hoffte dabei, daß die Aggressivität der struppigen, kläffenden Köter, denen dort zu begegnen sich gar nicht vermeiden ließe, der Entwicklung meiner katzenhaften Fähigkeiten dienlich sein würde.
    Ich muß gestehen, daß meine frühen Jahre in Amerika

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