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Mein Wahlkampf (German Edition)

Mein Wahlkampf (German Edition)

Titel: Mein Wahlkampf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Maria Schmitt
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bei tiefsten Stalingradtemperaturen, bei minus fünfzehn Grad, starteten wir die letzte große Materialschlacht dieser Frankfurter Kampagne. Die großzügige Griesbach-Spende hatte uns eine gute Tonne Wahlplakate beschert, die wir nun auf einem quietschenden Bollerwagen bei Eiswind und Hagelsturm kreuz und quer durch die Mainmetropole schleiften. Parteigenossen aus anderen Ortsvereinen verstärkten unser Team. Mit steifgefrorenen Fingern plakatierten wir Wände, Laternenmasten, Mülleimer, U-Bahn-Eingänge und, wenn sie sich nicht schnell genug in Sicherheit brachten, auch Passanten.
    Doch jede neue Blizzard-Bö forderte weitere Opfer, und nach und nach gaben selbst die tapfersten Wahlhelfer auf. «Zieht ohne mich weiter! Allein könnt ihr es schaffen!», rief ein Darmstädter PG und verschwand spurlos im ewigen Eis. Immer wieder mussten wir Teile unserer wertvollen Plakatfracht in Flammen aufgehen lassen, um uns daran zu wärmen.
    Mit schwindenden Kräften erreichten wir schließlich unser Ziel, die letzten noch unplakatierten Laternenmasten der Alten Brücke hoch über dem Main. Als Erster schaffte es der Landesvorsitzende bis zum rettenden Mast. Triumphierend hob er die Arme. Unbeschreiblicher Jubel, ein Ende der Qualen war greifbar. Wir befestigten das Plakat, machten noch schnell Erinnerungsfotos – als plötzlich der Aktivist rief: «Ey, seht mal, da hinten! Auf der anderen Brückenseite! Da … da hängt schon ein Plakat!» Ein Späher wurde losgeschickt, Minuten später kam er mit hängendem Kopf zurück. Jetzt war es traurige Gewissheit: Die Grünen hatten diesen Punkt vor uns erreicht und die Brücke per Plakat in Besitz genommen. «Es war alles umsonst», stammelte der Landesvorsitzende. Als kleine Eisklümpchen fielen seine Tränen in den Schnee.
    Wir alle waren ziemlich am Ende. Auf Geheiß des Politkommissars hatten wir zuvor schon Straßenmärkte besucht. Diese Großansammlungen seien für unsere Zwecke ideal, hatte er erklärt, weil die Menschen in dem engen Gedränge um die Marktstände nicht flüchten könnten und unserer Indoktrination wehrlos ausgeliefert seien.
    Doch die Konkurrenz schlief nicht, auch sie war schon auf den Trichter gekommen. Als wir uns mit Plakaten und Flyern einen Weg durch den schwatzenden und saufenden Marktbesucherpöbel bahnten, mussten wir enttäuscht feststellen, dass viele der Umstehenden bereits Werbematerial anderer Kandidaten in Händen hielten. Dann sahen wir auch schon den Pulk des CDU-Kandidaten, wie er sich vor uns durch die Menge kämpfte – während nur wenige Meter hinter uns die Grünen-Kandidatin wertlose Ballons unters Wahlvolk brachte. So zog am trinkenden Marktpublikum im Minutentakt das Politikerkarussell vorbei. Alle machten ihre Aufwartung, der Kampf um den letzten noch unentschlossenen Wechselwähler war fürchterlich entbrannt. Für die Leute muss das wie eine Geisterbahn im Stehen gewirkt haben.

    Mein Privatleben hatte ich mangels Nachfrage völlig aufgegeben. Wenn ich am Rechner die Amazon-Seite aufrief, bekam ich automatisch schon Buchempfehlungen wie Politik von A–Z , Knigge für Bürgermeister oder Karrierechance Bürgermeister . Ich wusste gar nicht, dass die Bürgermeisterei in Deutschland schon zu den normalen Karrierewegen gehörte. Gab es etwa eine eigene Bürgermeisterszene mit Bürgermeistermessen und -trainingscamps, wo neu gewählte Stadtoberhäupter in den Disziplinen Fassanstich und Altenheimbesuch amtsfähig gedrillt wurden? Erstmals kamen mir Zweifel, ob der Bürgermeisterjob auch wirklich der richtige für mich war.
    Als ich beim Straßenwahlkampf in der Frankfurter Innenstadt Oskar Lafontaine begegnete, waren diese allerdings schnell wieder verflogen. Er stand auf einer Bühne, die mit Bannern der Linken behängt war, und wetterte mit hochrotem Kopf gegen den Kapitalismus, die Macht der Banken und die SPD. Das spärliche Rentnerpublikum nagte an Wurstsemmeln, gierte nach dem verklappten Gratis-Apfelwein und folgte den Ausführungen des Redners eher beiläufig. Freude verbreitete sich erst, als ich mit meinen Wahlhelfern umherlief und mit PARTEI-Aufklebern versehene Gratisbananen verteilte. Erinnerungen an heroische DDR- und Wendezeiten wallten auf, die Stimmung stieg, was der noch immer fuchtelnde und tobende Lafontaine mit einer Mischung aus Belustigung und Abscheu verfolgte. Hatte er mich wiedererkannt? Schließlich war er es, dessentwegen ich in die Politik gegangen war.
    Ich war ihm als junger Mensch in Heilbronn

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