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Mein wirst du bleiben /

Mein wirst du bleiben /

Titel: Mein wirst du bleiben / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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so. Warum nur? Ich musste mich so zusammennehmen. Ich habe doch keinem etwas getan, nie gegen Gott und seinen Willen gehandelt, diesen toten Nachbarn, den kannte ich nicht einmal. Ich habe versucht, vor den Polizisten zu lächeln, aber falls die jetzt auch noch Mama befragen wollen, dann, dann … Sie würde das nicht verkraften.«
    Ihr Gesicht glänzte nass, und Tobias Müller befühlte seine Hosentaschen. »Ich habe keine Taschentücher bei mir«, entschuldigte er sich. »Ich hole Ihnen welche.« Er wollte aufstehen, doch Miriam Roth hielt ihn fest.
    »Nein, bitte, bleiben Sie.« Sie fuhr sich mit beiden Händen über die Wangen und lächelte wieder, und ihr Bild erinnerte ihn an seinen Hochzeitstag, als Michaela, seine Braut, duftende Blumen im geflochtenen Haar, vor Rührung geweint und er geglaubt hatte, die brennende Liebe zu dieser Frau würde ihn bis an den Rest seines Lebens wärmen. Heute schätzte er niemanden mehr als seine Ehefrau. Sie war ihm Freundin, Vertraute und zugleich Geliebte. Zumindest glaubte er das. Und sein Glaube war stark.
    »Manchmal kann ich einfach nicht mehr.« Sie nahm die Noten. »Bach! Eine wunderbare Musik. Sie gibt mir Kraft. Wenn die Leute wüssten, dass ich beim Putzen Bachkantaten höre, im Kopf natürlich nur …« Sie sang leise: »›Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe vor deinem Dräuen und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde.‹«
    Müller lachte. »Dann müssen Sie der sündigen Düsternis aber auch den Schlusschoral hinzufügen: ›Ich will alle meine Tage rühmen deine starke Hand, dass du meine Plag und Klage hast so herzlich abgewandt‹«, sang er, und Miriams Gesicht hellte sich auf.
    »Bach ist der fünfte Evangelist.«
    »Das sagt man.« Müller nickte und wurde ernst. »Kehrt denn die Erinnerung Ihrer Mutter noch immer nicht zurück?«
    »Nein. Sie weiß weder von dem Unfall noch von ihrem Leben davor und auch nichts aus der Zeit der Bewusstlosigkeit. Es ist … zum Verzweifeln.« Sie stellte die Noten wieder auf das Pult.
    »Was sagen denn die Ärzte?« Wie oft er ihr die Frage gestellt hatte, wusste er nicht mehr. Aber sie sollte Miriam bewusst machen, dass die Prognosen gut waren. Und dass er, dem sie vertraute, durchaus auf die Kompetenz der Mediziner zählte. Vielleicht konnte er so seine eigene Zuversicht mit ihr teilen.
    Miriam Roth senkte den Blick. »Ärzte«, murmelte sie. »Götter in Weiß. Sie wissen nichts. Mama will nicht mehr zum Arzt. Sie weigert sich. Sie wird hysterisch, wenn ich sie bitte.«
    »Amnesien sind selten endgültig.« Auch das: viele Male gesagt – selten bei Miriam angekommen. Tobias Müller hatte zahllose Stunden im Internet recherchiert, um den beiden Frauen Hoffnung geben zu können, ohne lügen zu müssen. Er kannte die genauen Unfallverletzungen Thea Roths nicht, doch er vermutete, dass die Ursachen ihres Gedächtnisverlustes rein physisch und nicht psychisch bedingt waren. Sonst hätte sie ein Trauma vom Ausmaß eines Kriegs oder Konzentrationslagers erfahren und verdrängen müssen. Und das hatte sie sicher nicht. Nein, er glaubte, dass die tiefe Bewusstlosigkeit verantwortlich war oder der Sturz auf den Bordstein, von dem Miriam berichtet hatte. Beides Ereignisse, bei denen eine Amnesie für viele Jahre, in Ausnahmefällen für immer, zurückbleiben konnte. »Thea wird ihr Leben wiederfinden. Ich glaube daran. Sie sind so geduldig mit ihr. Vertrauen Sie Gott und auch Ihrer Mutter. Wir können bei allem, was wir tun, und ganz egal, was passiert, nie tiefer fallen als bis in Gottes Hand.«
    »Ich weiß nicht.« Sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Gestern, da habe ich Mama« – ihre Stimme wurde zu einem Flüstern – »verflucht in Gedanken. Nur kurz. Nur eine Sekunde. Aber ich schäme mich so.« Ihr Oberkörper bebte, und der Pfarrer wusste nicht recht, ob er sie in den Arm nehmen oder einfach sitzen bleiben und zuhören sollte. Er fürchtete, sie könnte eine Umarmung missverstehen und würde sich dann nicht mehr hierher trauen.
    »Ich habe Mama ein Fotoalbum gezeigt und ihr von dem Haus erzählt, in dem wir früher gewohnt haben.«
    Tobias Müller nickte.
    »Es war schön, das Haus. Und den Garten, den habe ich so geliebt. Von dem Konzertflügel aus konnte ich auf die Rosen und die bunten Rabatten sehen, und auf dem Teich hat das Entenpaar seine Kreise gedreht. Manchmal habe ich geglaubt, sie liebten die Musik genauso wie ich.« Sie machte eine Pause und schürzte die Lippen. »Tiere sind

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