Mein wirst du bleiben /
Werke.
Sola fide.
Das sagt unsere evangelische Konfession.«
»Aber ich muss ihr doch helfen.«
»Sie sind eine starke Frau«, sagte Müller, als sie sich schließlich zum Gehen wandte. »Jesus ist bei Ihnen. Er gibt Ihnen Kraft für das, was Sie glauben und tun, für Ihre Mutter und sich selbst.«
Miriam Roth sah ihn lange an. Der Himmel ganz nah bei Gott musste ein ähnliches Blau wie ihre Augen haben.
»Danke«, sagte sie nur, und der Saum ihres Kleids glitt über die Stufen, als der schmale Treppenabgang ihre zierliche Gestalt verschluckte. Gleich darauf fiel die Tür zur Kirche zu.
Tobias Müller verharrte eine gefühlte Ewigkeit neben dem Treppenabgang, blickte in dessen düstere Leere und horchte auf die Stille. Dann weinte er.
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11
E hrlinspiel ließ die Scheiben seines Dienstwagens nach unten gleiten. Anstatt auszusteigen, schob er eine
Diana-Krall-
CD in den Player, lehnte seinen Kopf an die Nackenstütze, schloss für einen Moment die Augen und strich sich über die Arme.
Unfälle.
Die Narbe, die sich von seinem Ellbogen in den linken Ober- und Unterarm zog, spürte er kaum mehr. Nicht körperlich. Und seit dem letzten Winter blendete auch sein Bewusstsein die Ereignisse immer zuverlässiger aus. Verarbeitete, was ihn so lange zerrissen hatte. Das befreite.
Ob die Eltern der kleinen Charlotte auch in ein unbeschwertes Leben zurückgefunden hatten? Nach den letzten Klängen von
Narrow Daylight
ging er auf die Kirche mit dem hohen, durchbrochenen Glockenturm aus Beton zu.
Charlotte Schweiger war am Freitag, den 7. November 1997 vor dem Haus einer Freundin überfahren worden. Dort hatte sie den Nachmittag verbracht, schräg gegenüber von ihrem Zuhause, in unmittelbarer Nähe der Draisstraße. Als sie gegen siebzehn Uhr die Freundin verlassen hatte, war sie dort aus der Tür auf die Straße gestürmt, ohne im strömenden Regen und in der anbrechenden Dunkelheit nach links oder rechts zu sehen. Der Zwölftonner war nur achtundzwanzig Stundenkilometer gefahren. Trotzdem hatte Gärtner nicht mehr bremsen können.
Der Leiter des Verkehrsunfalldienstes, das Elefantengehirn EG , hatte die Eltern der Kleinen auch nach dem Unglück noch betreut. Für ihn war das ein christliches Gebot. Unbezahlt. Zeitintensiv. Aber oft erfüllend.
Noch gestern Abend hatte sich bewahrheitet, was EG vermutete: Charlottes Familie, die Eltern und ein Bruder, hatten damals geplant, nach Frankreich auszuwandern. Sie liebten das Burgund und die frankophile Lebensart, hatten Freunde bei Dijon und gehofft, dort ein neues Leben beginnen zu können. Dass sie tatsächlich dorthin gezogen waren und noch heute in einem kleinen Dorf nahe bei ihren Freunden lebten, hatte ein Anruf beim
Gemeinsamen Zentrum der deutsch-französischen Polizeizusammenarbeit
in Kehl bestätigt. Die Dijoner Kollegen waren heute früh bei den Schweigers gewesen. Mit Gärtners Tod konnten sie – zumindest, was eine eigenhändige Täterschaft anging – nichts zu tun haben: Sie waren zur Tatzeit mit ihren Freunden auf einer mehrtägigen Wanderung gewesen.
Martin Gärtner hatte sich nach dem Unfall völlig zurückgezogen. Zwar hatte ihn keinerlei Schuld getroffen, eine fahrlässige Tötung war ausgeschlossen und das Verfahren eingestellt worden, deshalb hatte die Soko bei Gärtners Überprüfung auch keinen Eintrag gefunden. Verkehrsstraftaten waren ohnehin nicht im polizeilichen System gespeichert, nur im Bundeszentralregister. Und auch dort hatte sich nach erneuter Prüfung nichts gefunden. Zweimal hatte EG Martin Gärtner damals angerufen und Hilfe angeboten, doch Gärtner hatte abgeblockt. Einige Male war er bei dem Pfarrer gewesen, der auch den Schweigers zur Seite gestanden hatte.
Als Ehrlinspiel die Hand auf den Griff der schweren, dunklen Kirchentür legte, öffnete sie sich wie von selbst, und er musste einen Schritt zurücktreten. Die Frau, die herauskam, war offenbar ebenso erschrocken, denn sie blieb kurz stehen, blickte ihn überrascht an und eilte dann mit einem leisen »Entschuldigung« davon. Der Kommissar sah ihr nach. Das war doch die Nachbarin von Martin Gärtner! Freitag und er hatten vorgestern im Treppenhaus mit ihr gesprochen, als sie nach Hause gekommen war. Eine Frau, die man immer beim Kommen und Gehen trifft, dachte er. Zwischen Tür und Angel.
Im Innern der Kirche war es angenehm kühl. Sie war schlicht gestaltet, mit schnörkellosen Bänken, braunem Marmoraltar und schwarzem Schieferboden, auf dem seine Schritte hallten.
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