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Mein wirst du bleiben /

Mein wirst du bleiben /

Titel: Mein wirst du bleiben / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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sensibel, Tiere wissen mehr, als wir uns vorstellen können.«
    Wieder nickte der Pfarrer. »Sie sind Geschöpfe Gottes.«
    »Mama hat mich die Liebe zur Musik gelehrt. Sie hatte diese Kassetten mit den wunderschönen Klängen. Auch Musik von Bach. Arien, Motetten und die großen Passionen. Aber das wusste ich damals nicht. Mich hat es als Kind einfach nur berauscht. Immer wenn Mama weggegangen ist, habe ich die Kassetten aus dem Schrank geholt und in den Rekorder geschoben. Dann habe ich den Finger locker auf die Starttaste gelegt, tief Luft geholt und die Augen zugepresst. Erst dann habe ich die Taste richtig gedrückt. Ich war jedes Mal wahnsinnig aufgeregt. Irgendwann habe ich versucht, die Melodien auf dem Flügel nachzuspielen. Ich war gar nicht so schlecht. Aber Mama hat natürlich viel besser gespielt.« Miriam lachte bei der Erinnerung, und Müller war froh, sie heiter zu sehen. »Eines Tages hat sie mich überrascht, mitten in der zweiten Sopran-Arie des
Magnificat.
Ich hatte lange daran geübt.«
    »Sie hat geschimpft?«
    »Nein, nein. Sie hat sich gefreut. Es steht doch in Es-Dur. Das ist schwierig gewesen für mich. Mit drei
b,
ich hatte noch nie so viele schwarze Tasten benützen müssen. Und dann hat sie mir das Klavierspielen beigebracht. Sie hat mit so viel Hingabe gespielt, ganz unaufgeregt, nicht so überspannt wie Glenn Gould oder so hitzig wie Martha Argerich. Die sollte sowieso keinen Bach spielen. Bach ist so rein, so klar, wie eine Stimme, die mit uns redet.« Miriam Roth griff in die Tasten und spielte die ersten Takte des
Magnificat.
Abrupt hörte sie wieder auf. »Es war eine gute Zeit.«
    »Ihre Mutter spielt Klavier? Das wusste ich ja gar nicht.« Tobias Müller war erstaunt. Vielleicht könnte er Thea Roth anbieten, hier in der Kirche Orgel zu spielen. Ohne Pedale, die sie wahrscheinlich nicht beherrschte. Aber mit den beiden Manualen würde sie sicher klarkommen. O ja, bestimmt würde ihr das Freude machen. Dass er selbst Orgelspielen hatte lernen dürfen, erfüllte ihn oft mit großer Dankbarkeit. Das Orgelspiel brachte ihn näher zu Gott. Es hatte etwas Entrückendes, Himmlisches. Es half, die Welt zu ertragen.
    Miriam drehte sich etwas auf der Bank und sah ihm direkt in die Augen. Ihr Blick traf ihn bis ins Mark. Nichts war von ihrer Heiterkeit der letzten Momente noch da. Trauer, Müdigkeit, Resignation … Miriam schien in ihrer Sorge alles in sich zu vereinen.
    »Mama hat sich verändert. Sie ist nicht mehr so wie früher. Ihr Flügel ist so wunderschön gearbeitet und ein Meisterwerk der Klangfülle. Sie geht an ihm vorbei, als wäre er nie ein Teil von ihr gewesen. Als wäre er ein Fremdkörper. Mein Spiel lässt nichts in ihr erklingen. Keine Empfindung, kein Glück.«
    »Lassen Sie ihr Zeit. Vielleicht gibt es ja jetzt andere Dinge, die die Saiten des Lebens in ihr anregen. Situationen, die uns in die Nähe des Todes bringen, verändern uns. Akzeptieren Sie es. Es ist einfacher, als zu verzweifeln.«
    Miriam wurde erneut von einem Schütteln erfasst. »Ich schaffe das nicht. Gestern, die Fotos … Da war ein Bild von ihr, wie sie am Flügel sitzt, und ich habe zu ihr gesagt: ›Möchtest du nicht versuchen, Kraft in der Musik zu finden? Du könntest hier in der Wohnung bleiben und spielen, statt die schweren Taschen der Nachbarn zu tragen und nächtelang auf dem Balkon zu sitzen und vor dich hin zu starren.‹ Da ist sie aufgestanden, hat mich angefunkelt und gesagt, ich solle sie nicht ständig behandeln, als sei sie geistesgestört.« Miriams Wangen waren feucht. »Da habe ich gedacht: Du böse Frau, ich rackere mich ab, krieche auf Knien durch Treppenhäuser und schrubbe die Klos anderer Leute, und du, du …« Ein Weinkrampf brachte sie zum Schweigen, und schließlich sagte sie tränenerstickt: »Ich bin eine Sünderin. Ich muss beichten.«
    Tobias Müller nahm Miriams Hand. »Kommen Sie.« Er führte sie an die Brüstung der Empore und deutete auf die Jesusfigur über dem Altar. »Er hat jedes unserer Worte gehört. Er hat längst vergeben.«
    Miriam hielt den Blick fest auf das Kreuz gerichtet. So standen sie nebeneinander, und Müller vermutete, dass sie Zwiesprache mit Christus hielt.
    »Was soll ich nur tun?«, fragte sie nach einer Zeit, und ihr Blick schien hinauszugleiten in eine unbekannte Welt voller Zweifel und Ängste.
    Sie ist nicht gut gerüstet, um der Welt zu begegnen, dachte er. »Allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute

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