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Mein wirst du bleiben /

Mein wirst du bleiben /

Titel: Mein wirst du bleiben / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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zu und fragte: »Sind Sie ein gläubiger Mensch?«
    Moritz Ehrlinspiel, der auf die Frage nach seinem Glauben stets mit »Ich weiß nicht, ob es Gott gibt« antwortete, zögerte. Doch der Seelsorger schien ein moderner Mann mit gesundem Menschenverstand und Realitätssinn zu sein, und es bedurfte wohl keiner Flunkerei, um ihn für sich zu gewinnen. »Ich bin Agnostiker.«
    »Nicht schlecht! Agnostiker sind kritische Köpfe. Sie setzen sich mit den Fragen des Lebens oft intensiv auseinander.«
    Ehrlinspiel nickte. »Das muss ich in meinem Beruf sowieso. Wir nennen uns zwar
Er
mittler. Aber«, erklärte er eine seiner Grundeinstellungen, »ich sehe mich eher als
Ver
mittler.«
    »Zwischen Mensch und Mensch.«
    »Und Sie vermitteln zwischen Mensch und Gott?«
    »Wenn es möglich ist. Aber natürlich auch zwischen Menschen. Viele der Abgründe sind auch mir nicht fremd. Die Hölle mancher Leute, wenn Sie so wollen.«
    »In welchen Abgrund hat Martin Gärtner geblickt?«
    Lange sah Müller den Hauptkommissar an. Sein Gesicht verriet keinerlei Regung. Dann sagte er: »In die Augen der Mutter.«
    »Charlottes Mutter«, sagte Ehrlinspiel, wie um den Pfarrer anzustupsen, als dieser nicht weitersprach.
    »Gärtners letzten Besuch hier werde ich nie vergessen. Es war am ersten Advent, und die Kirche hat nach harzigen Tannenzweigen und Bienenwachs geduftet. Da vorn« – er deutete neben den Altar – »war wie jedes Jahr die Krippe aufgebaut worden. Gärtner ist zur Tür hereingekommen, aus der Kälte, mit nichts als einem dünnen Pullover, Jeans und Sandalen bekleidet. Er hat nicht einmal Socken angehabt. Als spüre er gar nichts mehr. Wahrscheinlich war das auch so. Vor der Krippe ist er stehen geblieben, hat das Jesuskind herausgenommen und es in den Händen gedreht. Und dann … dann ist es aus ihm herausgesprudelt. Moment, ich hole rasch etwas.«
    Müller lief durch die Kirche, die Empore hinauf, Ehrlinspiel hörte, wie eine Tür auf- und ein paar Minuten später wieder abgeschlossen wurde. Gleich darauf saß der Pfarrer wieder neben ihm, ein abgewetztes Notizbuch in der Hand.
    »Ich notiere, was mich bewegt, und seit neuestem auch, was ich nicht vergessen darf. Man wird älter.« Er lächelte und blätterte zu ein paar einzelnen Sätzen und Stichwörtern. Dann nickte er versonnen. »Ich kann es nicht wörtlich wiedergeben nach all den Jahren, aber die Art und Wortwahl vielleicht.« Müller schloss das Buch und legte die Hände darum. »›Ich hab sie nicht gesehen‹, hat Gärtner gemurmelt. ›Es war ein ganz normaler Tag. Ich hab gearbeitet. Ich hatte Feierabend, und ich hab mich aufs Wochenende gefreut. Die Charlotte. Ich bin über die große Kreuzung gefahren, da fahr ich jeden Tag. Ich nehm den Laster oft mit nach Hause. Das machen alle bei uns. Jeder hat seinen Laster und ist für den verantwortlich. Dann bin ich in die Egonstraße eingebogen.‹ An dieser Stelle hat ihn ein Weinkrampf geschüttelt, und er hat seine Hände um das Jesuskind gelegt wie eine Schale, die das kleine, verletzliche Wesen birgt. ›Gesungen hab ich sogar‹, hat er gesagt, als die Tränen versiegt waren. ›Die Rolling Stones. Ich mag die doch so. Das war nichts Unrechtes. Oder? Die Charlotte. Ich hab’s doch nicht wollen. Es hat so geregnet. Die Reifen haben geschmatzt auf der nassen Straße, und die Scheibenwischer haben leise geschlagen, fast im Takt zu der Musik, das hab ich noch lustig gefunden, und die Bäche sind die Scheibe runtergelaufen, und ich bin doch so langsam gefahren. Gesungen hab ich sogar. Gesungen.‹ Er hat immer schneller geredet, zwischendurch die Nase hochgezogen, geweint. Ich dachte, er erstickt mir im wahrsten Sinne des Wortes an seiner Qual.«
    Tobias Müller stand auf und ging ein paar Schritte zwischen den Bänken und dem Altar auf und ab. Ehrlinspiel beobachtete seine Schritte, die ein wenig einzuknicken schienen wie bei einem Vogel, der suchend umherstakste. Schließlich setzte Müller sich wieder, jetzt auf die andere Seite neben Ehrlinspiel.
    »›Ich hab sie nicht gesehen.‹ Das hat Gärtner dauernd wiederholt, bis die Sätze wie ein reißender Fluss aus ihm herausgeflossen sind. ›Da war diese Hecke, die geht bis zur Straße hin. Und dann hab ich plötzlich dieses gelbe Ding gesehen, den Regenmantel, und unter der Kapuze haben helle Haare vorgekuckt, so hell, Charlotte, ich hab doch noch nie einen Unfall gebaut. Sie hat mich angeschaut, ich weiß es, ihre Augen waren aufgerissen, die sind auf mich

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