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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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Anträge von einer großen Mehrheit abgelehnt. Anschließend wurde eine Sondersitzung des Presbyteriums einberufen, um ihnen Gelegenheit zu einem Widerruf zu geben. Mr. Wright erschien und erklärte, er habe seine Ansicht zu dem umstrittenen Thema geändert und sei bereit, seinen Irrtum einzugestehen. Seine Erklärung und andere Antworten erwiesen sich als zufriedenstellend. Er erhielt die Lizenz und wurde später vom Presbyterium ordiniert.
    Lovell dagegen ließ vermelden, er wolle ein Jahr warten, bevor er einen weiteren Versuch unternehme, die Lizenz zu erhalten. Seitdem hat er offenbar einen Sinneswandel durchgemacht, da seine heutige Prüfung das Presbyterium in allen theologischen Punkten zufriedenstellte, so dass ein Termin für seine Ordination anberaumt wurde.
     
    Wir verfügen über keinerlei nennenswerte Beweise, dass der Mensch Moral hat. Er selbst ist dafür der einzige Zeuge. Personen, die ihn nicht kennen, schätzen sein Zeugnis. Sie glauben, er sei weder oberflächlich noch eitel, weil er aufgrund ebendieser Eigenschaften den Pfau so sehr verachte. Sie lassen sich blenden und betrachten ihn nicht als Viech oder Bestie, da er diese Wörter verwendet, um missbilligend Eigenschaften zu beschreiben, die er selbst besitzt und außer ihm kein anderes Geschöpf. Dank seiner eigenenAussagen halten sie ihn für einen Ausbund an Achtbarkeit, was er ausdrücklich nicht ist, und unterlassen es (absichtlich?), das Zeugnis seiner Taten zu untersuchen. Das ist die sicherste Vorgehensweise, aber die hat nicht der Mensch ersonnen, sondern der Iltis. Seit Urzeiten hat sich der Iltis im Tierreich ganz ehrlich und naiv für das gehalten, was die Rose im Pflanzenreich ist. Das liegt daran, das er keine Untersuchungen anstellt.
    Der Mensch glaubt, er sei kein Unhold. Das liegt daran, dass er den Katechismus von Westminster, den er erdacht hat, nicht untersucht. Er und der Iltis – aber es ist unfair, die beiden nebeneinanderzustellen, schließlich hat der Iltis keinen Katechismus von Westminster erdacht.
    Indessen rangiert der morallose Mensch, der blutige und grausame Mensch dank seiner einen großen und glänzenden Gabe hoch über den anderen Tieren – seines Intellekts. Er hat Äonen über Äonen gebraucht, um die volle Größe und Erhabenheit dieser Gabe zu demonstrieren, doch schließlich ist es ihm gelungen. Äonenlang musste schon ein wirklich dürftiges Tier sein, was ihm an bestimmten herausragenden Fähigkeiten nicht ungeheuer überlegen war. Zu Beginn verfügte der Mensch nur über die kümmerliche Kraft seiner unbewaffneten Hände, um sein Leben zu schützen, und wenn ihn der Löwe, der Tiger, der Elefant, das Mastodon und die anderen mächtigen Tiere anfielen, war er hilflos wie ein Kaninchen; an Ausdauer war er den anderen Geschöpfen weit unterlegen; im ganzen Bestand gab es kaum ein Tier, das ihn nicht an Schnelligkeit zu Lande beschämte; an Schnelligkeit zu Wasser konnte jeder Fisch ihn übertrumpfen; seine Sehkraft war ein Hohn – was die Wahrnehmung kleinster Dinge betraf, war er mit Blindheit geschlagen, verglichen mit der Sehkraft der Insekten, und der Kondor konnte ein Schaf aus größerer Entfernung erkennen als er ein Hotel. Mit dem Erfindungsreichtum seines Geistes jedoch hat er sich mit all diesen Gaben künstlich ausgestattet und sie unschlagbar wirkungsvoll gemacht. Seine Lokomotive übertrifft alle Vögel in der Luft und alle Tiere auf dem Felde an Schnelligkeit und überbietet sie an Ausdauer; es gibt im Tierreich keine Augen, die sich mit seinem Mikroskop und seinem Teleskop messen können; die Stärke des Tigers und des Elefanten ist Schwäche, verglichen mit der Durchschlagskraft seiner schrecklichen Kanone, die eine Reichweite von einerMeile hat. Zu Beginn wurde ihm die »Herrschaft« über alles Getier übertragen – ein sehr hübsches Präsent, aber doch nur schöne Worte, die eine nicht existierende Souveränität bezeichneten. Diese aber hat er selbst in eine real existierende umgewandelt und ist in jüngerer Zeit tatsächlich »Herr« geworden. Als er antrat, war er arm an physischen Talenten; inzwischen ist er kraft seines Intellekts das mit Abstand reichste aller Tiere. Aber in Fragen der Moral ist er noch immer arm – in dieser Hinsicht das mit Abstand ärmste der Geschöpfe. Die Götter schätzen allein die Moral; dem Intellekt haben sie weder Komplimente gemacht noch irgendeine Belohnung ausgesetzt. Sollte Intellekt in der nächsten Welt irgendwo willkommen sein, dann in

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