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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Twain
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größter Intimus, und dies ist mein Eindruck von ihm. Sein Verstand ist ein verwirrendes Schauspiel, wenn ich sehe, wie er mit schwierigen Geschäftsverwicklungen wie denen des gewaltigen Standard Oil Trust, der United States Steel und der anderen ungeheuren finanziellen Konglomerate unserer Zeit umgeht – denn er und seine Millionen stecken in ihnen allen, und sein Gehirn ist ein Großteil der Maschinerie, die sie am Leben und in Gang hält. Viele Male in den vergangenen elf Jahren haben meine kleinen und lästigen Geschäfte mich gezwungen, Tage und Wochen wartend in New York City zu verbringen, und mein Wartezimmer war sein Privatbüro im Standard Oil Building; ausgestreckt auf einem Sofa hinter seinem Stuhl, beobachtete ich sein Tun, rauchte, las, lauschte seinen Verhandlungen mit den Kapitänen der Industrie und bedrängte ihn mit Ratschlägen, die nicht erbeten und nicht einmal erwünscht waren und die, soweit ich mich erinnere, in keinem einzigen Fall angenommen wurden. Ein geduldiger Mann, so viel lässt sich über ihn sagen.
    Dieses Privatbüro war ein geräumiges Zimmer mit hoher Decke im elften Stock des Standard Oil Building, durch dessen große Fenster man auf das rege Treiben auf dem Fluss hinabblickte, in der Ferne der Koloss der Freiheit, die mit ihrer erhobenen Fackel die Welt erleuchtet. Wenn ich nicht dort war, herrschte Einsamkeit, da in diesen Pausen niemand das Zimmer belagerte außer Mr. Rogers selbst und seiner brillanten Privatsekretärin Miss Katharine I. Harrison, die er unter den siebenhundertfünfzig Angestellten, die in dem Gebäude für die Standard Oil arbeiteten, vor dreizehn oder vierzehn Jahren einmal in einer Notlage hereingerufen hatte. Damals war sie neunzehnoder zwanzig Jahre alt und stenographierte und tippte für das damals übliche Gehalt von fünfzehn oder zwanzig Dollar die Woche. Er hat ein gutes Auge für Fähigkeiten, und nachdem er Miss Harrison eine Woche lang erprobt hatte, beförderte er sie auf den Posten der leitenden Privatsekretärin und erhöhte ihr Salär. Seither bekleidet sie diesen Posten; sie hat miterlebt, wie die Größe des Gebäudes sich verdoppelte, die Zahl der Büroangestellten auf fünfzehnhundert anwuchs und ihr eigenes Gehalt auf zehntausend Dollar im Jahr stieg. Sie ist die einzige Privatsekretärin, die im Allerheiligsten sitzt, die anderen sitzen im Nebenzimmer und treten auf ein Glockenzeichen ein. Miss Harrison ist geistig rege, gebildet, belesen in der guten Literatur des Tages, mag Gemälde und erwirbt sie, ist eine Enzyklopädie, in deren Kopf die zahlreichen Details von Mr. Rogers’ Geschäften geschrieben stehen, und hat ein angeborenes Talent für Ordnung und System. Mr. Rogers benutzt sie, wie er ein Buch benutzen würde, und sie stellt die gewünschten Informationen mit der Verlässlichkeit und Genauigkeit eines Buches zur Verfügung. Mehrere Male habe ich Mr. Rogers sagen hören, sie sei in der Lage, seine Geschäfte im Wesentlichen ohne seine Hilfe abzuwickeln.
    Mr. Rogers’ Rat in Geldangelegenheiten wurde zwangsläufig von einem hohen Aufgebot an Männern und Frauen ohne Kapital gesucht, die Ideen zum Verkauf anboten – Ideen, die Millionen wert waren, sofern man ihre Verwirklichung dem richtigen Mann anvertraute. Mr. Rogers’ Anteil an diesen Gelegenheiten war so groß, dass er, hätte er alle derartigen Bittsteller empfangen und angehört, zwar viele Millionen pro Stunde hätte verdienen können, dann aber für seine eigenen Geschäfte keine halbe Stunde am Tag mehr übrig gehabt hätte. Da er alle diese Leute nicht empfangen konnte, empfing er niemanden, denn er war ein fairer und gerechter Mann. Zu seinem Schutz war sein Büro eine Art Bollwerk mit Außenbefestigungen, etlichen Verbindungszimmern, zu denen niemand Zutritt erhielt, ohne zuerst eine Außenbefestigung passiert zu haben, in der mehrere junge Farbige Wache standen, Visitenkarten und Gesuche entgegennahmen und Absagen austeilten. Drei der Verbindungszimmer waren für Beratungen gedacht und nur selten unbesetzt. Hier saßen wartende Männer – Männer, die einen Termin hatten, keinen unbestimmten, sondern einen vom Minutenzeiger der Uhranberaumten. Diese Zimmer hatten Milchglastüren, und ihr privater Charakter war auch in anderer Hinsicht gewährleistet. In diesen Zimmern beriet sich Mr. Rogers im Laufe seines sechsstündigen Arbeitstages mit vielen Menschen; und ob die anstehende Frage klein und einfach oder groß und kompliziert war, erörtert und erledigt

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