Meine kaukasische Schwiegermutter
zahmer kaukasischer Wind streichelte ihm zärtlich übers Fell.
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Meine Schwiegermutter
und Tarzan
Meine Schwiegermutter ist eine leidenschaftliche Cineastin. Sie mag gut gemachtes Kino, ob Actionfilme oder Liebeskomödien – auf das Genre kommt es ihr nicht an. In erster Linie schätzt sie die schauspielerische Leistung, die Glaubwürdigkeit und die Dramatik einer Geschichte. Jedes Mal, wenn wir bei ihr im Nordkaukasus anrufen, höre ich Schreie oder Schmatzer im Hintergrund. Meine Schwiegermutter sagt stets zur Begrüßung: »Warte einen Moment, ich schalte die Kiste aus.« Auch wenn sie uns in Berlin besucht, verbringt sie mehrere Stunden täglich vor dem Bildschirm. Allerdings ist sie auf Filme in russischer Sprache angewiesen. Bei uns in Berlin ist sie Ehrenmitglied der russischen Videothek im Lebensmittelladen Kasatschok. Leider ist diese Videothek nicht groß genug. Meine Schwiegermutter hat dort bereits vor Jahren alle Regale durchgearbeitet. Es werden zu wenig gute Filme und Serien in Russland gedreht, und noch weniger werden ins Russische übersetzt. Die Besitzerin des Ladens ruft meine Schwiegermutter jedes Mal an, wenn sie etwas Neues, Spannung Versprechendes aus Russland bekommt. Aber meine Schwiegermutter ist bei der Auswahl der Filme zimperlich. Sie schaut sich nicht jede Serie an, nur weil in ihr Russisch gesprochen wird.
Ihr erster Film war einer über Tarzan, ein amerikanischer Mehrteiler, der als Kriegstrophäe nach Russland gekommen war. Die Amerikaner, die im Zweiten Weltkrieg unsere Verbündeten waren, hatten bei den Schlachten nicht von Anfang an mitgemacht, sondern so lange es ging mit der Eröffnung einer zweiten Front gewartet. Ihre Soldaten griffen erst dann in die Kämpfe gegen die deutsche Wehrmacht ein, als die sowjetische Armee schon halb Europa befreit hatte. Dafür unterstützten die Amerikaner die Russen mit Konserven, LKWs und Filmen. So kam, glaube ich, der Tarzan-Mehrteiler nach Russland. Es könnte natürlich auch sein, dass die sowjetische Armee die Tarzanfilme tatsächlich bei einer schweren Schlacht von den Deutschen als Kriegsbeute erkämpft hat. Vielleicht hatte die Wehrmacht vor, ihre Soldaten mit diesem Film auf den baldigen Angriff der Amerikaner vorzubereiten. Aber die Russen waren noch vor den Amerikanern da, die Deutschen flohen, und Tarzan landete in Russland. Die Wahrheit wird man wohl nie erfahren. Auf jeden Fall stand im Vorspann jeder Folge der Tarzan-Serie: »Dieser Film wurde als Trophäe im Zweiten Weltkrieg durch den beispiellosen Einsatz unserer herausragenden Armee erobert.«
Als diese vermeintliche Kriegsbeute die Heimatstadt meiner Schwiegermutter erreichte, fehlten bereits zwei von sechs Folgen. Der Film wurde vier Abende lang, Folge auf Folge, im »Klub des proletarischen Bataillons«, dem damals einzigen Filmtheater von Grosny, gezeigt. Der Klub befand sich auf der sogenannten 36. Ölbohrparzelle, sechs Kilometer vom Haus meiner Schwiegermutter entfernt. Jeden Abend ging sie mit ihren Freundinnen zu Fuß dorthin. Ganz Grosny konnte bereits nach Ausstrahlung der ersten Folge den Tarzan-Schrei imitieren. Hinter jeder Ecke, aus jedem Busch hörte man sein »Yahoo« – mit kaukasischem Akzent, was diesen Schrei noch gefährlicher machte.
Im Film geht ein Flugzeug im Dschungel verloren, alle Insassen sterben, nur ein kleiner Junge überlebt den Absturz. Er wird von Affen mehr schlecht als recht aufgezogen und verliebt sich viele Jahre später in Jane, die Tochter eines Professors, der eine archäologische Expedition im Dschungel leitet. Weil Tarzan ziemlich exotisch erzogen wurde und weil die zwei mittleren Folgen fehlten, bekam die Geschichte von Tarzans Liebe wahrhaft komische Züge. Durch die Besonderheiten seiner Erziehung war Tarzan als verliebter Junge nicht besonders gesprächig. Stattdessen schlug er sich mit der Faust auf die Brust, schrie laut herum und sprang von Baum zu Baum. In der gekürzten Variante, ohne dritte und vierte Folge, ging Tarzan bei Jane gleich zur Sache und grabschte sie bei jeder Gelegenheit an. Die Professorentochter, ein hübsches Mädchen, hatte anscheinend eine Schwäche für solche Typen. Statt dem wilden Idioten eine runterzuhauen, schien sie an seinem animalischen Charme Gefallen zu finden. Dabei wirkte sie jedoch, wie mir meine Schwiegermutter berichtete, ziemlich unglaubwürdig.
Die Ausstrahlung der gekürzten Tarzan-Version in Grosny im Jahr 1949 hatte eine haarsträubende Wirkung auf die
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