Meine letzte Stunde
dass wir sie uns meist selbst in bester Absicht gestellt haben, die uns viele Leben rauben.
Drei Erlebnisse, die mich bestärkt haben, dieses Buch zu schreiben
An dieser Stelle haben Sie ein Recht darauf, meinen eigenen Zugang zur letzten Stunde zu erfahren. Als ich 30 wurde, dachte ich mir wenig dabei. Mit 40 kam dann die Bestätigung, dass alle recht hatten, die meinten, dass das Leben umso schneller verfliegt, je älter man wird. Heuer werde ich 50. Statistisch habe ich im besten Fall noch knapp 30 Jahre vor mir, also so lange wie von meinem
20. bis zu meinem 50. Geburtstag, das ist durchaus lange. Nur wenn diese Zeit doppelt so schnell vergeht wie bisher, sind es nur mehr 15 Jahre, und das ist ziemlich kurz. Es kann auch wesentlich schneller gehen. So wie bei meinem Freund Poldi.
„Was hast Du eigentlich?“, fragte ich ihn, als ich ihn endlich einmal nach einer ungewöhnlich langen Zeit, in der er nicht zurückrief, am Telefon erreichte. „Einen Krebs habe ich“, antwortete er nüchtern. Ein Satz, auf den mir keine richtige Antwort einfiel, sosehr ich sie auch suchte. Von diesem Augenblick an war ich Zeuge eines mit ungeheurer Willenskraft geführten Kampfes des damals erst 37-jährigen Musikjournalisten gegen einen unbezwingbaren Gegner. Beruflich war Poldi einer der ganz großen Musikjournalisten, der von den Beatles bis zu Michael Jackson alle Legenden persönlich interviewt hatte. Privat war er Marathonläufer, Vegetarier, Autorennfahrer und vor allem ein begeisterter Weltreisender, der allein die über 350 Kilometer lange Trans-Zanskar-Tour im Norden von Indien gemacht hatte. Am Anfang seiner Krankheit war er sich ganz sicher, dass er wieder gesunden würde. So jung zu sterben war für ihn absolut keine Option. Er träumte schon von der nächsten großen Reise, die er nach seiner Genesung machen würde. Als die Ärzte ihm einen künstlichen Darmausgang legen mussten, kamen ihm erste Zweifel, ob er damit zum Südpol würde reisen können, einem großen Ziel, das er sich gesetzt hatte. Er verfiel körperlich immer schneller, die Ziele wurden kleiner und zunehmend kurzfristiger.
Ich erlebte, wie der Krebs einen Menschen von innen auffrisst. Hatten wir früher nächtelang darüber diskutiert, was die Welt im Innersten zusammenhielt, wurden Gespräche nun immer schwieriger. Wie spricht man mit einem Todkranken? Für mich glich es dem unsicheren Tasten auf einer dünnen Eisschicht: ein falsches Wort und man bricht ein. Ich suchte nach Worten, die es nicht geben konnte, weil mir die Existenz einer Sprache der Hoffnung damals noch völlig unbekannt war. Diese besteht nicht aus Worten, sondern aus Gesten. So kann ein Händehalten, eine Umarmung oder ein einfacher Druck auf den Unterarm die verborgenen Kanäle der Hoffnung öffnen. Gott sei Dank hatte Poldi jemanden gefunden, der diese uralte Sprache des Herzens fließend sprach, Tseten, eine Tibeterin, die ihn begleitete.
„Nicht fragen, wie es mir geht, und bitte keine Alternativtherapien“ – das waren die Begrüßungsworte, die mir Poldi bei meinem letzten Besuch im Haus seiner Eltern entgegenschleuderte. Seinen Humor hatte er auch in den letzten Tagen seines Lebens nicht verloren. Durch Poldi habe ich das Fegefeuer kennengelernt. Das Fegefeuer ist die Zeit zwischen der Verkündung einer unheilvollen Diagnose und dem Akzeptieren, dass man sterben wird: eine scheinbar logisch ablaufende Folge von Phasen des Leugnens, des Schocks, des Protests, der Aufnahme des Kampfes, der kleinen Hoffnungen und der vielen großen Enttäuschungen bis zum erschöpften Sich-Fügen in das Unvermeidliche. Zu seinem Begräbnis kam ich zu spät, weil das gesamte Gebiet um den Friedhof herum von den vielen Freunden zugeparkt war, die ihm die letzte Ehre gaben. Es wird zu den immer verschlossenen Geheimnissen unserer Existenz gehören, warum manchmal gerade unsere besten und liebenswertesten Menschen viel zu früh gehen müssen.
Bei der ersten Begegnung mit meiner eigenen letzten Stunde hatte diese ebenfalls das Gewand einer bedrohlichen Diagnose gewählt. Ich litt längere Zeit an hartnäckigem Durchfall. Zuerst verdrängte ich das völlig und war durchaus fantasievoll im Erfinden plausibler Erklärungen dafür. Es funktionierte aber nicht. Irgendwann ging ich zum Arzt, in der Hoffnung, dass mir dieser ein Medikament verschreiben und nach einer Woche wieder alles normal sein würde. Doch das Normale war eine Folge von Routineuntersuchungen, die ergaben, dass eine Koloskopie
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