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Meine Mutter, die Gräfin

Meine Mutter, die Gräfin

Titel: Meine Mutter, die Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yvonne Hirdman
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hässlichsten Häuser, die man sich denken kann …
    Und der kalte, herabrieselnde Mairegen macht es nicht besser. Fröstelnd suchen wir nach dem schönen Haus mit Türmchen, in dem sie während des Krieges gewohnt haben, können es aber nicht finden. Vielleicht war es eines der Häuser, die abgerissen wurden, um dem neuen Zentrum zu weichen. Wir streifen durch die Straßen; der Lauf der Zeit hat deutlichere Spuren hinterlassen, als uns bei unserer Ankunft bewusst war: dem Verfall preisgegebene Gebäude und Häuser, die ohne jedes Gespür renoviert wurden – aus den rosa Fassaden glotzen nüchterne, sprossenlose Fenster.
    Von einem plötzlichen, unbändigen Gefühl von Heimweh gepackt, suchen wir nach dem Bahnhof und dem Busbahnhof – einst hat es hier fünf Bahnhöfe gegeben, wie uns gesagt wurde, heute existiert nur noch ein einziger Bahnhof, der gleichsam versteckt weit entfernt vom Zentrum liegt.
Gegenüber vom Busbahnhof, wo früher betrunken die Männer grölten, befindet sich jetzt ein Zoo mit eingesperrten, stinkenden Löwen, Bären und Tigern, die mehr tot als lebendig sind und apathisch in ihren winzig kleinen Betonkäfigen dahindämmern, während frohgemute Kinder die Gänge entlangspringen.

    Im Park vor dem Rathaus – ein Paar küsst sich hinter einem Fliederbusch. Ein Mädchen, das im Regen dahintänzelt – ihr schlanker Körper hüpft geradezu vorwärts – da löst er sich im Nichts auf.

    Ich liege in meinem Hotelbett und lausche der Stille, der Stille von Radautz. Und mir geht durch den Kopf: Hier ist sie früher umhergestreift – tänzelnd, vorwärtshüpfend – hier hat sie wegen ihrer unglücklichen Liebe geweint, hat Ränke mit ihren Freundinnen geschmiedet – nicht mit Leni, Leni war noch zu klein. Feste und Ausflüge, Jungs, die ihr mit ihren schönen braungrünen, dichtbewimperten Augen nachsahen – ihr allererster Kuss – wo? Vielleicht hier, hinterm Rathaus, im Dunkeln, hinter einem intensiv duftenden Fliederbusch.
    Dann ging es nach Hause, zu Mama, die gerade aus frisch gezupfter und gekochter Roter Bete Salat macht, den sie mit frisch geriebenem Meerrettich und Vinaigrette anrichtet, und sie schlingt die Arme um Emilie und sagt: Mmm, riecht das lecker und …

    Das liegt mir anscheinend, denke ich in die undurchdringliche Radautzer Stille hinein. Idyllische Bilder entstehen wie Fotografien fürs Familienfotoalbum. Lächeln bitte, lächeln! – und wenn nicht Mittsommer gefeiert wird, dann Weihnachten, und heißa!, jetzt alle mal ein bisschen fröhlich!

    Das kann doch nicht die Kindheit gewesen sein, von der sie Maria im Sommer 1932 auf Utersum nachts, als beide nicht einschlafen konnten, im Flüsterton erzählt hat? Im Sommer nach ihrem Selbstmordversuch.
    »Wir hatten ja beide eine unglückliche Kindheit«, wie Maria sich Jahrzehnte später zu erinnern glaubte.
    Soll ich Fritz jetzt etwa wieder überdimensionale Proportionen annehmen lassen, soll ich wieder »diese Sache« aufwärmen? War das nicht der Grund für unsere Suche im Archiv von Suceava? Die Suche nach der ganzen detaillierten Anklage und allen Zeugenaussagen, seitauf, seitab, damit ich mir irgendwie ein Bild davon machen konnte, mir über den Wahrheitsgehalt von Lenis Schilderung schlüssig werden konnte? – Na, wer sagt's denn! Das waren ja nichts als leere Behauptungen! Es war so, wie Emilie immer gesagt hatte, dass die Kinder sich in widersprüchliche Aussagen verstrickt hatten, dass es sich nur um realitätsferne Phantasien gehandelt hatte – die Tür war schließlich nicht verriegelt! Fritz war doch schwerhörig! –
    Eili und ich haben den viereckigen Innenhof betreten, der wie ein Burghof aussieht, und ich habe die Tür angestarrt, die zum Keller der Buchhandlung geführt haben muss. Das Bild stimmte nicht mit dem überein, das ich Emilies Schilderung in ihrem Brief an meine Mutter zufolge vor Augen gehabt hatte – dass die Tür zur Straßenseite ging, wo die Leute vorbeiflanierten. Andererseits kann es hier auch nicht ganz menschenleer gewesen sein, muss doch allein schon aufgrund der in der Nachbarschaft ansässigen Betriebe und Geschäfte ein gewisser Lieferverkehr stattgefunden haben. Für das an der Ecke gelegene Restaurant »National« zum Beispiel – Bierkarren und Wagen mit Lebensmitteln und Gemüse. Was weiß ich.
    Nein, es gibt keine Lösung für dieses Rätsel. Und keine Auflösung auf den letzten Seiten. Mir kommt die Diagnose
von Lenis Gesundheitszustand aus den 1990er Jahren in den Sinn, die

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