Meine Mutter, die Gräfin
über ihren armen, geplagten Körper Auskunft gab, der womöglich ihrer Psyche einen Knacks versetzt hatte, der dafür gesorgt hatte, dass die Bilder in ihrem Kopf einen Hexentanz aufführten. Hatte sie, Leni, doch immer ein Schattendasein geführt, war immer erst an zweiter, nein, an dritter Stelle gekommen – zuerst Lottie, dann Otto und dann, ja dann erst Leni.
Aber vielleicht liege ich da ja auch völlig falsch. Vielleicht musste einem Leni gar nicht so leidtun. – Kräftig und willensstark. – Vielleicht ist sie Fritz ja auch entwischt?
Armer Fritz, fährt mir plötzlich zum ersten Mal durch den Kopf. Ein junger Mann aus Hamburg, der Bücher – und Kinder – liebte. Und Kindertheater. Ein Mann voller Abenteuerlust, der unzählige Geschichten im Kopf hatte, unzählige Projekte plante. Und dann lässt ihn ein Enkelkind in einem so schlechten Licht erscheinen. Ohne sich sicher zu sein, ob es sich überhaupt so zugetragen hat.
Ich wälze mich im Bett, während die Tauben ihr höhnisches Hu-huu-hu – glaubst du wohl, glaubst du wohl … anstimmen.
Sie stand auf blonde Männer, denke ich. Männer, die Bücher mochten. Männer, die voller Abenteuerlust waren, immer neue Projekte am Wickel hatten … So viel ist sicher. Alexander – jesses, ja, wie sollte es anders sein. Schriftsteller. Märchenerzähler. Theatralisch. Abenteurer und Träumer.
Und Heini – blond und jungenhaft, ein Bücherwurm, ein Bildungsbürger und Fantast, bestimmt ein Mann, der auch mit Worten zaubern konnte.
Und schließlich Einar. Den Kopf voller Geschichten. Blond, intellektuell, ein Wissenschaftler beinahe, der seltsamen Vorhaben gegenüber ebenso aufgeschlossen war wie die anderen – wie nach Malmberget zu ziehen, mit dem Auto in die Sowjetunion zu reisen und beim Rasieren He
bräisch zu lernen und gleichzeitig die Wadenmuskeln zu trainieren – Papa .
Es gab immer jemanden in ihrem Leben – in der Hinsicht war sie, Charlotte, nie allein. Neckisch zwinkerte sie ihren Töchtern im Teenageralter zu, wenn sie das freche dänische Studentenlied du må ikke være bange, fordi jey gjort det med så mange, hab keine Angst, mein Schatz, in meinem Arm ist noch Platz, vorträllerte – Mensch, Mama, jetzt hör endlich auf! –, und mir geht durch den Kopf, dass sie – was immer auch gewesen oder nicht gewesen ist – ein Mensch war, der das Leben geliebt hat: Make the best of it .
Meistens jedenfalls.
Und trotz dieser dominanten Männer, trotz dieser Besserwisser, die zweifelsohne ihren äußeren Lebenslauf bestimmt haben – denn selbstverständlich duckt sie sich etwas, selbstverständlich verstummt sie gelegentlich, zieht sich zurück, wird von schlechtem Selbstvertrauen geplagt –, muss Emilie mit ihrer schier unerschöpflichen Energie, ihrer Flinkheit, ihrer Betriebsamkeit und ihrer Ironie doch eine Art »Gegenmacht«, oder wie immer ich das nennen soll, dargestellt haben. Eine kleine Mama, die man hervorholen und mit dem Zeigefinger streicheln konnte, wenn das Leben einmal schwer war. Eine kleine Mama, die immer wusste, was zu tun war. Es geht alles vorüber, mein Mädchen, sagt diese kleine Mama dann, gib dein Bestes. Zieh mit deiner großen Kaffeekanne in die Welt hinaus und schenk denen ein, die es nötig haben, so wie ich es während des Krieges getan habe.
Und da, in dieser dunklen Mainacht in Radautz, begreife ich – urplötzlich –, dass Mama, meine Mama, mit einem einzigen Blick und ein paar Worten jene anfänglichen Misstöne zwischen uns, jenen Satz aus ihrem Tagebuch, vollkommen wegradiert hat.
»Du bist genauso flink wie deine Oma Emilie«, hat sie gesagt, und ich, die sich an so wenig und an das nur so vage erinnern kann, habe mich an diese Worte erinnert. Habe sie nie vergessen, und sie haben mich unheimlich stolz gemacht. Sie waren beinahe wie ein Segen.
Von ihren hässlichen rosa Unterhosen aber ist nichts mehr übrig; sie sind seit Jahrzehnten zu Staub zerfallen, der sich verflüchtigt hat. Im Unterschied zu ihr – sie lebt, ich habe sie gefunden.
Personenverzeichnis
Ich habe nicht alle im obigen Text erwähnten Personen aufgeführt. Meine Personenauswahl wurde stattdessen vor allem von dem Wunsch getragen, wenigstens ein paar Freunde aus Charlottes »Kreisen« aufzuführen sowie weitere Informationen über wichtige Personen ihrer Zeit zu geben.
Die Angaben habe ich zahlreicher Literatur und verschiedenen Quellen entnommen, und auch hier war das Internet wieder von unschätzbarem Wert für mich,
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