Meine Mutter, die Gräfin
um, doch da hatte Sven schon mit Bestnoten sein Abitur bestanden und seine Marianne kennengelernt, Eili sich in Gällivare herumgetrieben – wie auch ich –, und dann zogen wir nach Småland und Oskarshamn, und statt Alkohol und Abendgesellschaften gab es Kaffee und Kuchen. Und Mama wurde immer schwermütiger, sodass wir ihr den Spitznamen Mater Dolorosa gaben – was natürlich nicht sonderlich nett war –, und dann, ja dann blieben nur noch sie und Papa da wohnen, sodass sie nach Stockholm zurückzogen, damit sie wieder einer Arbeit nachgehen konnte – die aber nicht auf Bäumen wuchs. Dafür dolmetschte sie wieder auf verschiedenen Gewerkschaftskongressen und rauchte sich weiter heiser, sodass sie, wenn das Telefon klingelte und sie den Hörer abnahm, wie Herr Hirdman klang. Und als Sven auf die Dolmetscherschule in Uppsala ging und er 1964 den Posten als Attaché in Moskau bekam, entschlossen sie sich dazu, ihn über Weihnachten und Silvester zu besuchen. Und so fuhren sie quer mit dem Auto durch Finnland, und ja, wie muss ihr Herz geklopft haben, als sie die Grenze passierten – und es war dunkel und Winter und Papa bekam eine Erkältung und ich, ich habe keinen blassen Schimmer, was sie in dem Moment empfand und welcher Film sich da in ihrem Inneren abspielte, und Marianne, ja Marianne erzählte, dass sie die Friedhöfe abgegrast habe, als ob sie nach jemandem gesucht hätte.
Sie starb im Februar 1966, nur wenige Wochen nachdem sie nach Hause zurückgekehrt waren.
Nach Hause?
Epilog
Am Nachmittag breche ich zusammen.
Du mäkelst die ganze Zeit nur an mir rum, sagt Eili.
Ja, erwidere ich.
Und breche in Tränen aus.
Ich möchte, dass du wieder so bist wie früher, schluchze ich, nicht so eine alte müde Tante. Ich möchte, dass du dich freust. Darüber freust, dass wir … Dass Mama …
Ich weine völlig unkontrolliert, weine vor Müdigkeit und Erschöpfung, wegen des überwältigenden Gefühls, Radautz kennenzulernen, weine, weil wir endlich hier sind, weil ich endlich » unsere schöne Bukowina « sehen werde. Weine wegen der endlos langen Reise: zuerst mit dem Flugzeug nach Budapest und dann nach Târgu Mureş, das fast in der Mitte Rumäniens liegt, von dort eine sechs Stunden dauernde Taxifahrt über schlechte Straßen, im Auto, das sich bergauf und bergab schlängelt, das die Schlaglöcher in der Straße in einem slalomartigen Zickzackkurs umrundet. Die herrlichen Wälder, Dörfer, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, deren Hauptstraße kleine Häuser säumen, frei umherlaufende Kühe und Pferde, die an den Wegrändern weiden, Heuwagen, die aussehen wie in meiner Kindheit, Pferd und Wagen, hier und da Roma – wann sind wir endlich da, es ist zu viel, es ist zu viel …
Ich breche zusammen, weine. Wir sind da.
Zwei alte Schwestern sind da, in einem Hotelzimmer in Mamas Kindheitsstadt Radautz – Rădăuţi, die einst im hintersten Winkel von Österreich-Ungarn lag, sind da – in der Bukowina.
Eili und Yvonne. Charlotte und Leni. Neid und Liebe. Zank und Zärtlichkeit. Tzanjad isctnjavitsch … ( nein , wen
det Eili ein, so hat sie das überhaupt nicht gesagt …) Zwei Hinterbliebene, Bruchstücke einer Familie, die wir nie kennenlernen konnten: den Buchhändler aus Radautz und seine Frau, die Schweizerin Emilie. Und diesem Einsamkeitsgefühl haftet ein bitterer Geschmack an – ich kenne ihn noch von jenen sich schier endlos hinziehenden Nachmittagen in Hökarängen, als ich wie erstarrt in der trübseligen Stimmung, die mich erfasst hatte, verharrte und die Zeit einfach nicht vergehen wollte: Mama und Papa kamen und kamen nicht, Sven und Eili waren immer noch nicht wieder aus der Schule da. Ein bitterer Geschmack. Eine Familie aus Fremden.
In Suceava, einer Stadt, die ein paar Kilometer südlich von Radautz liegt, stöbern wir Fritz – Fritz' Akte – im Archiv auf, das im selben heruntergekommenen Gebäude wie das Museum der Bukowina-Geschichte beheimatet ist. Ein Berg von Dokumenten über Radautz bzw. Rădăuţi wird vor uns ausgebreitet. Und da finden wir ihn: in einem Register über Zivilprozesse 1930-1932. Sein Name ist unter dem Datum 14. März 1931 aufgelistet, und er wurde beschuldigt, gegen den § 197 verstoßen zu haben. Von einem G.H. Hertz. Im März? , denke ich. Aber das kann doch nicht stimmen? Das war doch im Herbst 1931, diese ganze Misere, diese Misere mit den Mädchen im Keller der Buchhandlung. Mit den Mädchen F. Im März 1931 war Emilie doch in
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