Meine Mutter, die Gräfin
Berlin, hat bei Charlotte gewohnt und am Sterbebett ihres Sohnes gewacht. Und Fritz und Leni waren allein in Radautz.
»Entschuldigen Sie«, frage ich den entzückenden jungen Mann mit den Rehaugen, den Archivar namens Claudiu, zu dem ich bereits im Vorfeld unserer Reise Kontakt aufgenommen hatte und der uns mit unverwüstlicher Energie zur Seite steht. »Entschuldigen Sie, aber wofür steht § 197?«
» Debt «, antwortet er in einsilbigem Englisch. Schulden.
Ich überfliege die Seiten: Unzählige Menschen wurden
wegen Verstoßes gegen den § 197 angeklagt. 1931. Als die Krise auch Rumänien erfasst hatte. Böse Zeiten, finstere Zeiten. Wer konnte sich da schon Bücher leisten, oder Papier?
Ob er entehrt wurde? Der Buchhändler, der seine Schulden nicht bezahlte? War es eine Schande, deswegen angeklagt zu werden? Haben ihm die Freunde der deutschen Gemeinde beigestanden oder haben sie ihn auf der Straße geschnitten? Haben sie die Straßenseite gewechselt? Haben sie Emilie gemieden, als sie auf der Stefan-Cel-Mare-Straße zur Buchhandlung unterwegs war? Schwer zu glauben, verlief das Leben, aus dem Briefwechsel zwischen Radautz und Berlin zu schließen, doch wie immer. Und obwohl die Geschäfte schlecht liefen, waren die Lebensmittel preiswert, sodass Mama und Papa Schledt im Sommer 1931 zum Urlaub in die Berge fuhren.
Aber trotzdem. Hier steht es schwarz auf weiß: Fritz wurde angeklagt, weil er seine Schulden nicht beglichen hatte. Am 10. Oktober 1931 wurde er § 183 zufolge verurteilt. Und die Strafe? Denn mehr geht aus den Papieren nicht hervor; es existieren weder Gerichtsunterlagen noch Polizeiprotokolle.
Wir suchen weiter und finden etwas unter dem Datum, das uns schon bekannt war: dem 20. November 1931. Hier stoßen wir erneut auf seinen Namen. Da wurde er von einer Gertrude Frankel angezeigt, und das Verbrechen ist diesmal unter dem § 128 aufgelistet. (Frankel? Fraenkel? Etwa verheiratet mit Aron Fraenkel, der 1911 in Radautz einen Kolonialwarenladen eröffnete? Hatte es sich um ihre Töchter gehandelt?)
»Wofür steht § 128?«, frage ich – obwohl ich es eigentlich schon weiß.
Der Archivar weiß es nicht, er schüttelt den Kopf. Murmelt irgendwas, dass man es vielleicht herausfinden könne, obwohl … Er sieht müde aus und ich sage, dass er es auf
sich beruhen lassen könne. Danach durchsuchen wir das Register, in dem die Urteile verzeichnet sind, und finden ihn – Fritz – erneut. Er wurde am 4. Januar 1932 nach § 129 des Strafgesetzbuches verurteilt, dann stehen da noch drei kleine Buchstaben – cpb oder cpl. Nein, unser Freund und Helfer Claudiu weiß auch nicht, was das bedeutet. Voilà.
Und obwohl es uns nicht gelingt, mehr herauszufinden, scheint es mir doch die Reise wert, als ich in die vor mir aufgeschlagen liegende Akte sehe. Es ist also tatsächlich wahr. Nicht, dass ich noch Zweifel gehegt hätte – schließlich bin ich im Besitz jenes verzweifelten Briefes, den Emilie an ihre älteste Tochter geschrieben hatte. Aber trotzdem: In der Akte steht in Form dieses in gestochener Schrift festgehaltenen Namens der Beweis. Der unwiderrufliche Beweis.
Wie um uns – die, was die Geschehnisse des Jahres 1931 anbelangt, in einer Sackgasse gelandet sind – zu trösten, legt Claudiu uns einen Band nach dem anderen vor. Über alles, was in dem kleinen Archiv über Radautz noch zu finden ist. Vor allem handelt es sich um Bücher der öffentlichen Verwaltung, die über unzählige Einrichtungen Auskunft geben – zum Beispiel über das Bordell in der Jägergasse –, oder eine sorgfältige Auflistung aller 33 Vereine, die im Jahr 1920 in der kleinen Stadt ansässig waren (wie der »Arbeiter Wohltätigkeits Verein Liebe und Einigkeit«). Oder eine Aufstellung aller Stühle, Katheder und Tische, die für die vielen Schulen der Stadt angeschafft wurden. So wie im Band Inventar der Stadtgemeinde Radautz 1918 , wo ich mich in eine Inventarliste über den Gymnastiksaal des Mädchen-Lycäums vertiefe: Barren und Kästen, Böcke und Trampoline, ein Schwebebalken und 48 Turnstäbe – was immer das sein mag. Diese unzähligen Geräte für eine Schule in einer winzig kleinen Stadtgemeinde irgendwo in der abgelegenen Bukowina – für Mädchen!
Die schweren Folianten quellen geradezu über angesichts des darin geschilderten Lebens: Zahlreiche Aktivitäten, Einrichtungen für das Gemeinwohl, kulturelle Vielfalt, jede Menge politische Verbände. Das zeugt von blühendem Leben – und einer
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