Meine Mutter, die Gräfin
modernen Gesellschaft. Trotz des Krieges, trotz der altmodischen Schrift, die mit unverwüstlicher Tinte, Federkiel und abnehmbarer Stahlfeder zu Papier gebracht wurde.
Und da ist die Landkarte über die Bukowina, die in allen Klassensälen der unzähligen Schulen gehangen haben muss, die es in dieser kleinen Stadt gab. Sie haben Lottie, Leni, Otto und allen anderen Schülern das gezeigt, was den Mittelpunkt ihrer Welt darstellte: die Bukowina. Der Landstrich, der sich fast bis zu den Rändern der Karte erstreckt. Und da, da in der Mitte der Karte – seht her, da liegt sie; unverkennbar, ist sie doch mit einem großen roten Kreis markiert: die Stadt Radautz.
Und im Zentrum von Radautz – in dem großen, schönen Jugendstilgebäude von 1909, das wie eine viereckige Burg einen Innenhof umschließt und Türmchen und ornamentverzierte Türen hat – da, ja da lag auch Papa Fritz' schöne Buchhandlung. Da sehe ich sie, da beim vierten Fenster von links: Die Buchhandlung mit ihrem großen Schaufenster, ihren nett anzusehenden Auslagen, ihren hübschen Mädchen, ihren Buchausstellungen, ihrem schönen Inventar, ihren Geigen, ihren Schulbüchern – Guten Morgen, Frau Schledt, Guten Morgen, Herr Rosenblatt . Und da drüben – groß und beeindruckend – liegt die Synagoge mit ihren beiden Türmen, und dort ist die katholische Kirche, dort die lutherische, hier sehen wir das alte Kloster und da das Deutsche Haus, wo Theateraufführungen, Autorenlesungen und volksdeutsche Feste stattfanden. Und hier liegt das Rathaus – da ducken sich die Häuser unter ihren tief heruntergezogenen Dächern, ähnlich wie die Rumänen unter ihren kegel
förmigen Kappen. Rumänen, die die geraden Straßen säumen, die sich vom Zentrum der Stadt, in dem die Buchhandlung liegt, kilometerweit in die Außenbezirke erstrecken.
Es ist noch alles so wie es war – das Gebäude, in dem die Buchhandlung lag, die Synagoge, das Deutsche Haus … Die Gärten mit ihren kleinen Anpflanzungen, mit Radieschen, so groß wie Pflaumen. Die Tulpen stehen in voller Blüte, der Flieder ist kurz vorm Aufblühen. Der Mai ist gekommen – aber der Frühling lässt noch auf sich warten. Es weht ein kalter, scharfer Wind, der uns in die paradiesische Wärme unseres Hotels zurücktreibt.
Ob der Frühling 1918 auch so war, so kalt und regnerisch? Emilies Blick schweift über ihren kleinen Garten. Sie sorgt sich, dass die Pflanzen erfrieren. Keine Heizung, abends kein Licht. Kein Warmwasser. Und keinen Kaffee, keine Milch, das Mehl droht auszugehen. Kein Lebenszeichen von Fritz – ach, was macht sie hier? In die Stille hinein dringt unaufhörlich das höhnische, monotone Gurren der Tauben: hu- huu -hu, hu- huu -hu – es klingt wie ra- du -ti, ra- du -ti, als ob sie in ihren geplagten Kopf hineinhämmern wollten, wo sie sich befindet – Rădăuţi. Was macht sie hier ? Warum mussten sie nur hier herziehen?
Ob der Frühling 1931 auch so bitterkalt war? Fritz schreibt an den im Sterben liegenden Otto und versucht zu scherzen: Es sei so kalt, dass die Leute sich frohe Weihnachten statt frohe Ostern wünschten. Der Frühling wolle und wolle einfach nicht kommen! Der Fritz, der von einem G.H. Hertz angezeigt worden ist. Einsam, frierend und bis über beide Ohren verschuldet sitzt er in seinem Haus – ob Leni auf ihrem Zimmer ist? Auf ihrer Gitarre klimpert? Leni, mit ihren Träumen von – ja, von was, Leni? Von was ?
Es ist noch alles so, wie es war – nichts ist mehr so, wie es war. Wo sich einst das Fenster der Buchhandlung befand, ist jetzt Porzellan im Schaufenster. Wir stehen vor der verrammelten Synagoge – ach! Es gibt hier nur noch 14 Juden! , antwortet der Cafébesitzer, der Wand an Wand zum Hotel sein Lokal betreibt, möchten Sie einen Blick hineinwerfen? Mein Schwager kommt morgen, er hat einen Schlüssel . Im Inneren der Synagoge reihen sich die mit staubigem Plastik überzogenen Bänke aneinander. Eine Treppe aufwärts liegt die Frauenempore, von wo aus die Frauen das Spektakel der Männer verfolgten. Ja und dort, vor dieser heruntergekommenen, blauschimmernden Synagoge also, erstreckt sich das in seiner Ceauşescu-Architektur grotesk anmutende neue Stadtzentrum. Die hoch aufragenden, hässlichen Gebäude sind wie ein Schlag ins Gesicht, wie eine Beleidigung, die einem in aller Öffentlichkeit zuteilwird. Womöglich hat sich der unbewusste Protest des Architekten darin niedergeschlagen, sinniere ich: Bitte sehr, das passt zu diesem Regime – die
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