Der lila Leierkasten
Der lila Leierkasten
„Hier stand sie!“, sagte der Pfarrer der mittelalterlichen Gemeindekirche. Er deutete auf einen leeren Holzsockel, von dem in der vergangenen Nacht die wertvolle Riemenschneider-Madonna gestohlen worden war. „Und dort sind sie verschwunden!“ Der noch völlig verstörte Pfarrer führte Kommissar Kugelblitz durch die aufgebrochene Tür der Sakristei. Dort war ein Fenster eingeschlagen. Die Scherben lagen noch auf dem Boden herum.
Er kramte in der Schublade eines alten Schreibtisches und holte eine Ansichtskarte hervor.
„So sah sie aus!“
„Ein herrliches Kunstwerk“, meinte der Kommissar. „Ich erinnere mich an eine Abbildung davon in meinem Kunstgeschichte-Buch.“
„Das Werk ist unersetzlich; die ganze Welt hat uns darum beneidet!“, klagte der Pfarrer. Kugelblitz zwirbelte nachdenklich seinen Seehundbart zwischen Daumen und Zeigefinger und brummte: „Die Diebe haben einen Fehler gemacht ... Sie haben nicht bedacht, dass diese Plastik nicht nur äußerst wertvoll, sondern auch äußerst bekannt ist! Kunstwerke, die in Kunst-Büchern abgebildet sind, lassen sich auf dem ,schwarzen Markt’ nicht so leicht absetzen. Außerdem weiß inzwischen jeder durch die Berichte in den Zeitungen, dass diese Madonna gestohlen worden ist.“
„Ja, aber was nützt uns das?“, jammerte der Pfarrer.
„Die Diebe werden trotzdem versuchen, Geld dafür zu bekommen. Ich vermute, dass sie sich bald bei Ihnen melden werden.“
„Glauben Sie wirklich?“, fragte der Pfarrer hoffnungsvoll.
„Setzen Sie auf alle Fälle eine Anzeige in die Zeitung, in der Sie gegen hohe Belohnung um Rückgabe bitten!“
Kugelblitz behielt Recht. Keine zehn Tage später klingelte um Mitternacht das Telefon im Pfarrhaus. Der Pfarrer fuhr erschrocken hoch. Er griff nach dem Hörer und konnte es erst gar nicht fassen, was ihm da eine heisere Stimme anbot: die Rückgabe der Madonna gegen ein hohes Lösegeld!
Der Pfarrer persönlich sollte den genannten Betrag am folgenden Sonnabend in der Fußgängerzone der Innenstadt mit sich herumtragen.
„Ziehen Sie einen schwarzen Anzug an, damit unser Mann Sie erkennt!“, forderte die Stimme. „Das Kennwort ist lila Leierkasten! “ Nach diesen geheimnisvollen Anweisungen legte der Fremde auf.
Kugelblitz riet dem Pfarrer, unbedingt auf das Angebot einzugehen. Der Pfarrer tat sein Möglichstes, um den geforderten Betrag bei allen kunstinteressierten Menschen der Umgebung zusammenzutrommeln. Auch eine Bank und die Lokalzeitung stifteten einen namhaften Betrag. Am Tag der Übergabe schlüpfte kein anderer als Kugelblitz selbst in den schwarzen Anzug des Pfarrers, obgleich die Hose um den Bund herum gefährlich spannte. Abgesichert mit Gürtel und Hosenträgern mischte sich Kugelblitz unter die kauflustige Menge in der Fußgängerzone der Innenstadt. Hunderte von Gesichtern eilten an ihm vorbei. Jedes davon konnte dem geheimnisvollen Erpresser gehören. Wie um alles in der Welt sollte er ihn finden? Da tauchte ein Leierkastenmann auf. Als er sich an der Ecke gegenüber aufstellte, ging Kugelblitz unauffällig auf ihn zu. Aber der Leierkastenmann beachtete ihn nicht. Er zündete sich gemächlich eine Zigarette an, während
sein lila Leierkasten das Lied Wer soll das bezahlen ? spielte. Kugelblitz ging etwas verwirrt weiter. Er spürte, dass etwas mit diesem Mann nicht in Ordnung war. Aber was?
Schließlich war es nicht der Leierkastenmann, sondern ein Losmann, der ihn plötzlich ansprach: „Ein Los für eine Mark, der Herr Pastor?“
Als Kugelblitz nach seiner Geldbörse kramte, fügte er leise hinzu: „Und den großen Betrag für den lila Leierkasten! Her mit den Mäusen! Und zwar ein bisschen schnell!“
Umständlich suchte Kugelblitz nach dem Umschlag mit dem Geld. Es war ihm daran gelegen, dass seine Leute, die unauffällig zwischen den Passanten herumliefen, auf den Losverkäufer aufmerksam wurden. Aber die beobachteten im Augenblick nur den lila Leierkasten und seinen Besitzer.
„Rasch und unauffällig, Herr Pastor!“, zischte der Losverkäufer. Als Kugelblitz den Umschlag schließlich aus der vierten Tasche fischte, wurde ihm das Geld förmlich aus der Hand gerissen. Doch ehe der Losverkäufer weglaufen konnte, hielt ihn Kugelblitz am Ärmel fest. „Und wo ist die Madonna, Mann?“
„Na, im lila Leierkasten! Wo denn sonst!“, sagte der Losverkäufer. Und als sich Kugelblitz nach dem Kastenmann umsah, war der Losverkäufer mit dem Geld in der Menge
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