Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)
und ich fragte mich, wann Mum sie gekauft hatte. An meinem Geburtstag vielleicht. Oder während des Fußballspiels. Oder am Elternabend.
Und dann rannte ich plötzlich hinter ihr her, raste an Tänzern und Sängern und vielen Gesichtern vorbei, die von der Kälte gerötet waren. MUM , brüllte ich. MUM . Sie drehte sich um. Was ist, Schatz , fragte sie, und ich hätte am liebsten geschrien Nenn mich nicht so , aber ich hatte Wichtigeres zu sagen.
Wir standen vor einem italienischen Restaurant, und es roch nach Pizza, und ich hätte eigentlich Hunger haben müssen, aber mein Bauch tat so weh, dass ich sowieso nichts essen konnte. Ich hörte Leute lachen und Kellner reden und Gläser klirren, als die Gäste anstießen. Drinnen leuchteten Kerzen, und ich wäre so gern dort drin gewesen und nicht draußen in der Kälte.
Was ist , sagte Mum noch mal. Ich wollte ihr die Frage nicht stellen. Ich fürchtete mich vor der Antwort. Aber ich dachte an Jas und den Refrain unseres Lieds, und ich zwang mich dazu, mutig zu sein. Arbeitest du morgen , keuchte ich. Mum sah verwirrt aus. Sie zog ihren Mantel fester um sich. Warum , fragte sie, als fürchte sie, dass ich sie bitten könnte, länger zu bleiben. Ich würde es nur gern wissen , keuchte ich. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Ich unterrichte schon seit Monaten nicht mehr .
Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich sah einen Globus vor mir, den eine Hand immer wieder anstieß. Du arbeitest also nicht mehr für Mr. Walker , fragte ich, und fand es furchtbar, dass mein Herz so heftig pochte, weil es immer noch Hoffnung hatte. Mum schüttelte wieder den Kopf. Nein , sagte sie. Ich arbeite zur Zeit nicht. Ich war verreist. Nigel musste in Ägypten Recherchen für sein Buch machen, und ich habe ihn begleitet. Ich bin erst an Silvester zurückgekommen . Das erklärte jedenfalls, warum sie so braun war.
Mum machte ihre Handtasche wieder auf und nahm vier Briefe heraus, zwei von mir und zwei von Jas. Ich hab sie nicht rechtzeitig bekommen , sagte sie leise, als wolle sie sich entschuldigen. Als solle ich sagen, es sei nicht schlimm, dass sie am Elternabend und an Weihnachten nicht da war. Ich wäre gekommen , sagte sie. Ich war mir nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte.
Meine zweite Frage zu stellen, fiel mir noch schwerer. Die Welt drehte sich immer schneller, Autos und Menschen und Häuser sausten um mich und Mum herum. Das T-Shirt , sagte ich und starrte dabei auf den Boden. Ach ja , sagte Mum. Das hatte ich noch sagen wollen . Sie lächelte. Es sieht klasse aus . Ich lächelte auch, trotz allem. Sie griff nach dem Stoff und rieb ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Tolles Shirt. Wo hast du es her. Es steht dir wirklich gut, James .
20
Ich sagte kein Wort, als wir ins Haus zurückkamen, und Dad fragte mich, ob ich eine heiße Schokolade wollte. Die ganze Fahrt über hatte ich an Erdbeben denken müssen, und als wir in die Diele kamen, sah ich an weit entfernten Orten wie China die Erde beben und Häuser in sich zusammenstürzen. Ich fragte mich, ob es in Bangladesh auch Erdbeben gab und ob Sunya mir in der Schule davon erzählen würde. Sie war nicht bei der Talentshow gewesen, obwohl ich sie auf der Weihnachtskarte eingeladen und das Bitte sogar mit Glitter bedeckt hatte. Bestimmt war sie immer noch böse auf mich und würde so schnell auch nicht mit mir über Naturkatastrophen reden. Willst du eine heiße Schokolade , fragte Jas sanft. Ich nickte nur und ging nach oben, um Roger zu suchen. Er war nicht in meinem Zimmer. Ich setzte mich aufs Fensterbrett und starrte auf mein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Das Spider-Man-Shirt sah total blöd aus.
Vielleicht hatte Mum einen Witz gemacht. Oder sie hatte vergessen, dass sie es mir geschickt hatte.
Ja. So musste es sein. Ich nickte, und mein Spiegelbild nickte auch.
Sie hatte es vergessen.
Mum vergisst dauernd was. Sie geht in den Supermarkt und weiß nicht mehr, was sie einkaufen wollte. Und sie findet nie ihren Schlüsselbund, weil sie vergisst, wo sie ihn hingelegt hat. Einmal ist er im Tiefkühlschrank unter einem Paket Erbsen aufgetaucht, und Mum hatte keine Ahnung, wie er da hingekommen war. Kein Wunder, dass sie sich nicht mehr an etwas erinnert, das vor hundertzweiunddreißig Tagen passiert ist.
Dad kam mit meiner heißen Schokolade rein. Dampf stieg aus dem blauen Becher auf. Hier , sagte er und setzte sich auf mein Bett. Seit wir in dieses Haus gezogen sind, ist Dad nur ein Mal in mein Zimmer gekommen, und
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