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Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)

Titel: Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annabel Pitcher
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Rogers Maus. Rogers Karnickel. Roger. Ich holte tief Luft. Es nützte nichts. Der Oktopus hatte meine Lunge gepackt und quetschte sie zusammen. Es war keine Luft mehr drin. Ich würde nie mehr genug Luft kriegen. Ich fing an zu keuchen.
    Ich dachte daran, wie ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Roger hatte in meinen Armen geschnurrt, aber ich hatte ihn auf den Flur rausgesetzt und ihm die Tür vor der Nase zugemacht, obwohl er nur gestreichelt werden wollte. Ich hatte sein Miauen nicht beachtet und mich nicht mal von ihm verabschiedet, als wir zu der Show fuhren. Ich hatte mich nicht verabschiedet. Und nun war es zu spät.
    Der Schnee unter Roger war rot. Ein Windstoß zauste sein Fell. Ich ging auf Zehenspitzen näher an ihn heran. Meine Zähne klapperten, und meine Schultern zuckten auf und ab, als ich versuchte, Luft zu kriegen. Jetzt war ich nur noch zwei Meter entfernt. Ich sank auf die Knie und kroch auf Roger zu. Langsam. Ganz langsam. Mein Herz donnerte gegen meine Rippen.
    Rogers Bauch war aufgerissen. Die Wunde sah tief und verklebt aus. Seine Vorderpfoten waren verdreht. Gebrochen. Ausgerenkt. Ich dachte daran, wie Roger immer durch den Garten gerannt war oder wie er aus meinem Arm gesprungen und auf starken Beinen gelandet war, die noch funktionierten. Ich konnte es nicht ertragen, dass alles an ihm gebrochen und blutig war und er in der Kälte lag. Ich musste ihn wieder heil machen.
    Ich streckte einen Finger aus. Reckte den Arm vor. Meine Fingerspitze berührte sein Fell, aber meine Hand zuckte zurück, als hätte sie was Heißes berührt. Ich keuchte so heftig, dass mir schwindlig wurde. Ich versuchte es noch mal. Und noch mal und noch mal. Ich dachte an das Kaninchen, das ich mit Ästen hochgehoben hatte, und an die Maus, die ich auf einem Stück Papier weggetragen hatte, und ich musste auch an Rose denken. Rose, die in Einzelteile zerfetzt gewesen war. Mein Hals brannte schrecklich. Ich versuchte zu schlucken, aber die Spucke ging nicht runter.
    Beim sechsten Versuch schaffte ich es, Roger anzufassen. Mein Arm zitterte, und meine Hand war schweißnass, aber ich legte sie auf Rogers Hals und ließ sie da liegen. Er fühlte sich anders an. Ich dachte daran, wie oft ich meine Hand auf sein Fell gelegt und warme Haut und ein klopfendes Herz und das Vibrieren seiner Rippen gespürt hatte, wenn er schnurrte. Jetzt war da gar nichts mehr. Kein Leben mehr in seinen Schnurrhaaren. Kein Leben in seinen Augen. Kein Leben in seinem Schwanz. Ich fragte mich, wo all das Leben hingekommen war.
    Das Brennen aus meinem Hals war jetzt auf meinen Wangen. Grade waren sie noch eiskalt gewesen, jetzt glühten sie. Ich streichelte Roger den Kopf. Sagte ihm, dass ich ihn liebte. Sagte ihm, dass es mir leidtat. Er miaute nicht. Ich sah Reifenspuren im Schnee. Tief und kurz und quer, weil jemand schnell gebremst hatte und über die Straße geschlittert war.
    Der Schmerz wurde plötzlich zu Wut. Mit einem Wutschrei sprang ich auf und trampelte auf den Reifenspuren herum. Spuckte auf sie. Grapschte händeweise Schnee und schmiss ihn zum Himmel hoch. Warf mich auf die Knie und schlug wie wild auf die Spuren ein, und meine Faust tat weh, und das war gut so. An meinen Knöcheln platzte die Haut auf. Ich schlug noch mal zu.
    Wenn ich nicht zu der Talentshow gefahren wäre, dann würde Roger noch leben. Dann hätte ich gestern Abend gemerkt, dass er nicht im Haus war, und ich hätte ihn gesucht, und er wäre angerannt gekommen und um meine Gummistiefel gestrichen, und sein Fell hätte im Mondlicht geglitzert. Aber ich hatte mir zu viele Gedanken um Mum gemacht, anstatt an Roger zu denken.
    Mit zitternden Knien stand ich auf. Ich ging zu Roger, und jetzt hatte ich keine Angst mehr vor seinem toten Körper. Ich wollte ihn im Arm halten. Ich würde ihn nie wieder loslassen. Ich würde ihn tausendmal streicheln. Millionen Mal mit ihm kuscheln. Ihm alles sagen, was ich sagen wollte, als er meine Stimme noch hören konnte. Ich hob ihn so vorsichtig hoch, als sei er eine der Kisten mit der Aufschrift HEILIG . Sein Kopf kippte nach hinten, aber ich legte ihn auf meine Schulter. Ich drückte seinen Körper an mich und streichelte ihn. Ich rieb seinen Kopf und wiegte ihn sanft, so wie Frauen es mit Babys machen.
    Mein Kater fehlte mir. Er fehlte mir so sehr, dass das Brennen aus meinem Hals und von meinen Wangen sich weiter ausbreitete. Jetzt brannten auch meine Augen, und sie wurden wässrig. Nein. Kein Wasser. Nicht weinen.
    Ich weinte.

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