Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims: Roman (German Edition)
sah unser Spiegelbild im Fenster – Dad, Jas und mich mit Roger auf dem Arm. Eine Millisekunde lang hatte ich so ein hoffnungsvolles Gefühl, als würden wir wirklich ein neues Leben anfangen und alles würde gut sein. Dad nahm einen Koffer und die Schlüssel und marschierte zur Tür. Jas grinste mich an, streichelte Roger und folgte Dad. Ich setzte Roger ab, und er lief gleich in einen Busch. Nur sein Schwanz guckte noch raus. Komm schon , rief Jas auf der Veranda und hielt mir die Hand hin, als ich zu ihr rannte. Dann gingen wir zusammen ins Haus.
Jas sah es zuerst. Ihr Arm wurde plötzlich so starr. Magst du einen Tee , fragte sie, aber ihre Stimme klang piepsig, und sie starrte auf irgendwas in Dads Hand. Dad kauerte im Wohnzimmer neben seinem Koffer, und seine Kleider lagen überall verstreut herum. Wo ist der Wasserkessel , fragte Jas, als sei alles ganz normal. Dad schaute nicht von der Urne auf. Er spuckte darauf und polierte sie mit dem Ärmel, bis das Gold glänzte. Dann stellte er meine Schwester auf den Kaminsims, der beige und staubig war und genau wie der in London aussah, und flüsterte Willkommen in unserem neuen Haus, mein Schatz .
Jas suchte sich das größte Zimmer aus. Es hat einen Kamin und einen begehbaren Schrank, in dem sie ihre ganzen neuen schwarzen Klamotten unterbringen kann. An die Deckenbalken hat sie ein Windspiel gehängt, das klirrt, wenn man draufpustet. Mir gefällt mein Zimmer besser. Durchs Fenster kann man in den Garten schauen, auf einen alten Apfelbaum und einen Teich, und Jas hat ein Kissen auf das breite Fenstersims gelegt. Am ersten Abend im Haus saßen wir da ganz lange und guckten zu den Sternen hoch. In London habe ich die nie gesehen, da gibt es zu viel Licht von den Autos und Häusern. Aber hier leuchten die Sterne richtig hell, und Jas hat mir die Konstellationen erklärt. Sie kennt sich mit Horoskopen aus und liest ihres jeden Morgen im Internet. Da steht drin, was an diesem Tag passieren wird. Aber dann ist es doch keine Überraschung mehr , sagte ich mal zu ihr, als wir noch in London wohnten und Jas auf krank machte, weil im Horoskop stand, dass irgendwas passieren würde. Darum geht’s ja grade , sagte sie, ging wieder ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.
Jas ist Zwilling im Sternzeichen, was komisch ist, denn sie hat ja keinen Zwilling mehr. Ich bin Löwe. Als wir auf dem Kissen saßen, zeigte Jas mir den Löwen am Himmel. Hatte nicht viel Ähnlichkeit mit dem Tier, aber Jas meinte, immer wenn es mir schlecht geht, soll ich an den silbrigen Löwen am Himmel denken, dann würde alles gut. Ich wollte sie eigentlich fragen, weshalb sie mir das erzählte, denn Dad hatte uns doch versprochen, dass jetzt alles anders werden würde. Aber als mir die Urne auf dem Kaminsims wieder einfiel, traute ich mich nicht mehr zu fragen. Am nächsten Morgen sah ich eine leere Wodkaflasche im Mülleimer und wusste, dass unser Leben im Lake District genauso sein würde wie in London.
Das war vor zwei Wochen. Inzwischen hat Dad noch das alte Fotoalbum und ein paar Klamotten ausgepackt. Die Umzugsmänner haben die großen Sachen wie Betten und Sofa aufgebaut, und Jas und ich haben alles andere aus den Kartons geholt. Nur die Kisten, auf denen HEILIG steht, haben wir nicht angerührt. Die stehen im Keller unter einer Plastikplane, für den Fall, dass es eine Überschwemmung oder so was gibt. Als wir die Kellertür zumachten, kriegte Jas nasse Augen, und ihre schwarze Schminke verlief. Macht es dir nichts aus , fragte sie. Nein , sagte ich. Warum nicht , fragte sie, und ich antwortete, Weil Rose tot ist . Jas sah aus, als wollte sie gleich losheulen. Sag das nicht, Jamie.
Ich verstehe nicht, weshalb ich das nicht sagen soll. Tot. Tot. Tot tot tot. Verschieden , sagt Mum. An einem schöneren Ort , nennt es Dad. Ich weiß nicht, warum er das so sagt, er geht nämlich nie in die Kirche. Aber vielleicht meint er mit dem besseren Ort gar nicht den Himmel, sondern einen Sarg oder eine goldene Urne.
Meine Therapeutin in London meinte, ich würde verleugnen und hätte den Schock nicht verarbeitet . Eines Tages ist es so weit, dann wirst du weinen , hat sie auch noch gesagt. Scheinbar habe ich seit dem neunten September vor fünf Jahren, als es passiert ist, nicht geweint. Letztes Jahr haben Mum und Dad mich dann zu dieser fetten Frau geschickt, weil sie es merkwürdig fanden, dass ich wegen Rose nicht weinte. Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob sie wegen jemandem weinen
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