Meine Schwester und andere Katastrophen
und merkte, dass ich zu hyperventilieren begann. Ich dachte: Du siehst aus wie ich. Stufe um Stufe schleppte ich mich nach oben und krabbelte ins Bett. Ich erinnerte mich vage an eine Stelle aus einem Märchen - oder wenigstens einem Kinderbuch.
Doch ihr Herz war verhärtet.
Es ging nicht anders. Denn obwohl Lucille darauf achtete, sich als einfühlsam und liebevoll zu präsentieren, begriff sie nicht, dass ich es im Moment nicht ertrug, Interesse zu zeigen - nicht jetzt, wo es zu spät war. Weil ich ohnehin nur mit Mühe über die Runden kam, indem ich so tat, als hätte nichts von dem je existiert. Wenn ich auf Lucille reagierte, die Güte in ihrer Stimme hörte und das Staunen in ihren Augen sah, wenn ich auch nur meinen Kopf auf ihre Schulter legte, dann würde ich in ein Netz tiefer Trauer gezogen, das mich immer fester umspinnen würde, bis es mir die Luft zum Atmen raubte und ich am liebsten tot wäre,
weil ich die Trauer darüber, wie viel ich verpasst hatte, nicht aushalten würde.
Ich legte Lucilles Brief und das Foto von Sarah Paula in meinen weißen Aktenschrank, und zwar in den Ordner mit der Aufschrift »BABY«. Es war das Einzige, was ich mir an Sentimentalität zugestand. Anschließend ging ich nach unten und aß eine Schüssel Basmatireis, um die Übelkeit niederzukämpfen.
Im nächsten Moment wurde ich abrupt in die glanzvolle Gegenwart zurückgerissen. George jammerte: » Müssen wir morgen wirklich dahin?«
»Es ist Tante Ediths fünfundsiebzigster Geburtstag, George«, sagte ich. »Sie war wie eine Mutter für mich.«
»Die ist also an allem schuld. Sag ihr, du leidest an morgendlicher Übelkeit. Dass du auftauchst, erwartet sowieso niemand. Um deinen Ruf brauchst du dir keine Gedanken zu machen, du hast doch schon immer darauf geschissen.«
»Halt den Mund. Wir fahren. Meine Schwester wird dort sein.«
Ich hatte Lizbet nicht mehr gesehen, seit ich beobachtet hatte, wie sie aus ihrem Haus gerannt war, und inzwischen hatte ich auch aufgehört, sie anzurufen. Ich wollte nichts erzwingen, und ehrlich gesagt konnte ich das ganze Chaos im Moment nicht brauchen. Manche Menschen richten ständig Chaos an. Unmöglich, dass sie einen Tümpel nur betrachten. Sie müssen einen Stein hineinwerfen. Lizbet hatte überreagiert, ehe sie die Situation richtig einschätzen konnte - als hätte sie nach einem Vorwand für einen Ausbruch gesucht und die erstbeste Gelegenheit ergriffen. Ich war schwanger, hundemüde, und mein Gefühlsleben war verheddert wie ein Dornengestrüpp. Da brauchte ich nicht auch noch eine Schwester, die mir ins Gesicht brüllte.
Ich wusste, dass sie mit Mummy gesprochen hatte. Sie wohnte vorübergehend bei Fletch, einem Kollegen vom Ladz Mag . Ich glaube, die beiden waren nur Freunde. Sie hatte unserer Mutter erzählt, dass sie ihren Job gekündigt hatte und »eine Pause brauchte«. Nachdem sie nichts über mich und Tim gesagt hatte, ging ich davon aus, dass sie erkannt hatte, wie idiotisch sie reagiert hatte. Wahrscheinlich war es ihr peinlich, einem von uns unter die Augen zu treten, nachdem sie so einen Auftritt hingelegt hatte. Trotzdem mussten sechs Wochen reichen, damit sie sich wieder einkriegte. Wahrscheinlich würden wir uns bei Tante Edith sehen und beide loslachen. Oder - wohl eher, so wie ich sie kannte - so tun, als wäre nie was passiert. Es war alles ein Traum gewesen!
Der große Zinnober fand in Cousine Denises Haus statt. Bei der Einrichtung fragte man sich unwillkürlich, ob wohl ein kognitiver Prozess hinter alldem steckte. Jede Oberfläche - Boden, Wand, Sofa, Tisch - wild gemustert. Nirgendwo fand das Auge Ruhe. Und? Ihre Vorstellung von Gastfreundschaft beschränkte sich darauf, in Massen billige Esswaren einzukaufen, die man lieber ausgesucht und teuer kaufen sollte. Tunfisch- und Nudelsalat. Fischfrikadellen. Billige Fischfrikadellen kauft man auf eigene Gefahr.
Dafür war Tante Edith hier. Ich zuckte zusammen, als ich ihre geschwollenen Knöchel sah, aber es tat gut, sie das Handy umklammern zu sehen, das sie praktisch nie aus der Hand legte. Ich vermutete, dass sie einen wichtigen Anruf erwartete - von Onkel Pete aus dem Himmel.
George schlich hinter mir ins Zimmer. Wir sprachen kaum miteinander - zur Abwechslung -, obwohl uns die Aussicht auf das Baby zusammenschweißte. Ich hatte den Brief von meiner Tante Lucille erwähnt, und George hatte desinteressiert
genickt, so als hätte ich ihn daran erinnert, die Glühbirne im Keller
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