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Meine Schwiegermutter trinkt - Roman

Meine Schwiegermutter trinkt - Roman

Titel: Meine Schwiegermutter trinkt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diego de Silva
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›Wie-sieht-das-denn-aus‹ ist ein extrem flexibler ästhetischer Maßstab. Man weiß nicht, worin genau er besteht, aber er funktioniert. Verdammt gut sogar. Nimm nur mal die Sache mit dem Petting: Du reibst dich heftig an deiner Süßen, und irgendwann würdest du sie am liebsten kräftig bei einer oder sogar beiden Pobacken greifen, was zwar ein bisschen nach Lastwagenfahrer aussieht, aber einfach geil ist; sie hätte vielleicht nicht mal was dagegen (vielleicht würde sie in dem Moment sogar ein ordentliches Schinkenklopfen mögen), aber du lässt es bleiben. Warum? Ganz einfach: Weil das ›Wie-sieht-das-denn-aus‹ wieder zugeschlagen hat. Und so geht ihr doppelt unbefriedigt nach Hause; erstens weil das Petting gewisse schmerzhafte Folgeerscheinungen hat (in eurem Alter müsstet ihr das eigentlich wissen) und zweitens weil ihr euch den Genuss eines Pograpschens versagt habt, an dem, genau besehen, nichts Schlechtes gewesen wäre.
    So also funktioniert das mit dem ›Wie-sieht-das-denn-aus‹ . Es ist eine Art unsichtbarer Zensor, der dich in vergleichsweise harmlosen Situationen vor Blamagen bewahren will.
    Vereinfacht könnte man das ›Wie-sieht-das-denn-aus‹ oder den allgemeinen Sinn für Ästhetik definieren als die Furcht, etwas zu tun oder zu sagen, das dir später leidtun könnte. Um dich gegen seine Diktatur zu behaupten, musst du Stil haben und das auch wissen. Kurzum: Du brauchst großes Selbstvertrauen.
    Damit habe ich auch schon den Grund benannt, warum ich mich gegen die Diktatur des ›Wie-sieht-das-denn-aus‹ partout nicht wehren kann.
    Der ganze Schlamassel mit dem Ingenieur fing vor knapp einer halben Stunde an. Ich suchte im Supermarkt gerade zwischen den Regalen mit den geschälten Tomaten und den Fertigsoßen nach dem fettreduzierten Pesto von Buitoni, als er mich ansprach: ›Entschuldigung, Sie sind doch Rechtsanwalt Malinconico?‹
    Im Nachhinein ist mir auch klar, dass ich ihn nur kurz hätte fragen sollen, woher er mich eigentlich kennt. Spätestens als er mir erklärte, wie brillant ich vor Jahren einen alten Freund von ihm, der durch einen Arbeitsunfall zum Krüppel geworden war, verteidigt habe, hätte ich mich unter dem Vorwand ›mein Auto steht in zweiter Reihe‹ schleunigst verdrücken sollen. Tatsache ist, dass ich so selten auf jemanden stoße, der mit meinen Dienstleistungen zufrieden ist und mir das auch sagt, dass ich die raren Lobhudeleien genieße. Frustration macht eitel.
    Kaum hatte ich den Namen meines Ex-Mandanten gehört, sah ich im Geiste das Rubrum auf dem Aktendeckel vor mir, und die ganze Chose fiel mir wieder ein.
    »Comunale, Vittorio – ja natürlich«, bestätigte ich und nickte dazu mehrfach wie ein Wackeldackel auf der Hutablage im Auto.
    Rechtsanwälte erinnern sich an ihre Mandanten mit Nachnamen und Vornamen, in dieser Reihenfolge. Nicht nur wegen des Ablagesystems, sondern weil sie die Namen weniger mit einem Gesicht als mit dem Fall verbinden: Vittorio Comunale ist eine Person – Comunale, Vittorio aber ist der Titel einer Geschichte.
    »Sie haben es doch erfahren, oder?«, schloss der mir zu dem Zeitpunkt noch unbekannte Mann; ein gepflegter, höflicher Herr um die fünfzig, sehr dünn, beinahe ausgezehrt, und mit solch sorgenvollem Gesicht, dass ich es vermied, ihn direkt anzuschauen. Wer weiß, dachte ich, vielleicht ist diese Schwermut am Ende noch ansteckend.
    »Ja, aber leider zu spät. Ich wäre ja gern zur Beerdigung gegangen – sofern man in einem solchen Fall von ›gerne‹ sprechen kann.«
    Er lächelte. Im Hintergrund sendete das Radio Montagne verdi .
    »Vittorio hat mir damals schon erzählt, dass Sie äußerst sympathisch seien, Herr Anwalt.«
    »Das war er aber auch«, beeilte ich mich hinzuzufügen. »Er war einer von denen, die dem Leben einfach nichts verübeln können – um es einmal so auszudrücken. Nie, nicht mal unter den damaligen Umständen, habe ich in seinem Gesicht auch nur den Anflug eines Vorwurfs gesehen.«
    Ehrlich gesagt hatte mich das Thema gepackt, aber mit meinen Augen hing ich Montagne verdi nach (wenn man eine Melodie erkennt, folgt man ihrer unsichtbaren Spur in der Luft wie einem Insekt). Meine Putzfrau singt das immer. Und nicht nur sie – ich habe meine Freunde gefragt, und die bestätigten mir, dass ausnahmslos alle Zugehfrauen um die fünfzig bei der Arbeit Montagne verdi vor sich hin trällern. Als wäre bei ihnen eine Software vorinstalliert, die sich automatisch hochlädt, sobald sie zu Eimer

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